Ob es eine Krise der Ruhrtriennale ist, können wir offen lassen. Die Krise der Musiktheater-Produktionen dieser zweiten Stefanie Carp-Intendantinnenrunde jedenfalls ist mit Händen zu greifen. Allenthalben Ratlosigkeit, freilich virtuos überspielt. Ratlosigkeit über den Zustand der Welt (was man sehr gut verstehen kann), vor allem aber (was man nur schwer verstehen kann) über die Kunstform, die man sich gewählt, die einem niemand aufgezwungen hatte: Heiner Goebbels nicht, Christoph Marthaler nicht, David Marton nicht. Musiktheater, das sich auf eine eigentümliche Weise selbst fremd geworden scheint.
Drei große Ruhrtriennale-Arbeiten – nur der Marthaler-Abend eine originäre Ruhrtriennale-Produktion –, die eigentlich etwas anderes sein, die eigentlich ganz woanders hin wollten: Marton in den Film, Marthaler in die politische Bildung, Goebbels in die Malerei. Eine Fluchtbewegung, eine Tendenz in Anderes, die zugleich mit denkbar größtem Aufwand betrieben wurde, liebevoll in den Details, selbstvergessen in den Dimensionen. Was man erlebte, waren aufgeblähte Mammutabende, ausrechenbar, über Strecken von quälender Langeweile und handfesten Zumutungen. Im Ergebnis machte sich ein sonst kaum beachteter ‚weicher Faktor‘ bemerkbar, der nämlich, dass man schlecht sitzt bei diesem Theaterfest an theaterfernen Orten. Dagegen half zuweilen nur noch, sein Theater-Über-Ich zu mobilisieren. Karl Kraus etwa, der einmal auf dem Tischtuch seines Wiener Stammcafés eine Botschaft an seine Kollegen hinterlassen haben soll: „Denkt ans Fünfte Gebot! Schlagt die Zeit nicht tot!“ Man wünschte sich dies, in ganz großen Lettern geschrieben, über den Portalen der Ruhrtriennale. Platz genug wäre ja. Theater kann ja vieles, auch vieles dulden. Nur eine Geduldsprobe – die darf es nicht sein.
„Everything that happened …“
Uraufgeführt wurde diese jüngste Goebbels-Produktion 2018 beim „Manchester International Festival“. Warum sie Stefanie Carp an die Ruhr geholt hatte? Eine gute Frage. Die Antwort darauf blieb diese Produktion jedenfalls schuldig. Zu Gute halten muss man Goebbels, dass er sich den gigantomanischen Architekturen, immerhin ja das erklärte Markenzeichen der Ruhrtriennale, zu stellen imstande ist. Leerraum von den Abmessungen einer Bochumer Jahrhunderhalle zu befüllen, zu bespielen – hierin hat Goebbels mittlerweile große Routine entwickelt. Freilich brauchte er dazu jetzt ein Heer von Kulissenschiebern, die ihm diese Riesenbühne abwechselnd mit allerlei Merkwürdigkeiten bestückten – mit irgendwelchen Sockeln zwischen Denkmal-Unterleib und Mülltonne, beichtstuhlartigen Riesenmetronomen, Riesenbänken, am Ende, mehr und immer mehr, mit einem riesigen Aufgebot an Stoff, an Teppichen. Ein installativer Aufwand, der auf ein finales Schlussbild zulief. Auf einmal verstand man, weshalb Goebbels schon am Anfang überlange Röhren ins Spiel gebracht hatte. Letztere verwandelten sich nämlich in Maste, die Teppiche in Takelage, alles freilich im gebrochenen Zustand jenes Endes einer Schiffsreise wie sie der Maler Caspar David Friedrich in „Das Eismeer“ auf die Leinwand gebracht hatte: Inkunabel einer gescheiteren Zivilisation. Eben diese hat Heiner Goebbels installativ nachgestellt, inklusive der Ratlosigkeit. Alles andere verschwand, zumal die gelenke Verstandesakrobatik dieses Stücks. Auch auf Goebbels’schen Bühnen wird neuerdings viel verlesen. Dass es Texte waren von der edelmütigsten Gesinnung (Patrik Ourednik: „Europeana – Eine kurze Geschichte Europas im 20. Jahrhundert“) versteht sich, spielt aber keine Rolle. So was verliest sich. Und schließlich: Auch musikalisch blieb dieser Abend dürftig. Man improvisierte an den Rändern perkussiv vor sich hin. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Warum sich kompositorisch ins Zeug legen, wenn alles doch im Schiffbruch endet?
„Nach den letzten Tagen“
Zweigeteilt dieser „Spätabend“. Erst ganz viel Worte, dann ganz viel Musik. Und auch hier, wie bei Heiner Goebbels, edelste Gesinnung am Werk. Dazu eine nette marthalersche Ausgangsidee, eine Parlamentssitzung im Jahr 2134 oder so. Abgeordnete erscheinen, platzieren sich im Audimax der Bochumer Universität und überschütten das Publikum, wohldosiert, aber stetig, mit Müll. Dem Programmzettel durfte entnommen werden, dass der „in der Aufführung verwendete Text mehrheitlich“ von Stefanie Carp geschrieben wurde. Man spürte die Absicht und fiel darüber schnell in ein Stimmungstief. Die Sprechblase dazu wie folgt: Dass sich Carp/Marthaler am Skandal eines europaweiten Rechtspopulismus, Neo-Rassismus, Antisemitismus reiben, ist nachvollziehbar und steht schlechterdings nicht in der Kritik. Wie auch! Im Gegenteil! Nur, dass sie als Theatermacher der Meinung waren, dieser Empörung eine Theaterform verpassen zu sollen, hat eine Schieflage bewirkt, an der dieser Spätabend aus der Balance kam.
Schon die Teilung in Wort und Musik war im Prinzip ein Offenbarungseid. Leitend war wohl die Idee einer zu erzeugenden Ekelreaktion beim Publikum. Dafür hat man sich in die Rolle politischer Heilpraktiker begeben, getrieben von dem irrwitzigen Therapieziel einer vollständigen Immunisierung gegen Rechts – durch ganz viel Rechts. (Volksmund: Bös muss Bös vertreiben.) Ein Vorhaben, das nicht nur von vornherein zum Scheitern verurteilt sein musste, sondern das sein vollständiges Scheitern gerade durch die Qualität des Marthaler-Theaters beschleunigte. Das verständliche Bühnen-Sprechen, das Marthaler so liebt, und wofür wir ihn lieben, führte hier geradewegs in den Harakiri, insofern sorgfältig gesprochener Müll, besagte rechtspopulistische Textcollagen, in der Wirkung nach hinten losgingen. Man erträgt es einfach nicht, wenn in einem fort Abstrusitäten, Ungeheuerlichkeiten aufgetischt werden.
Dass am Antisemitismus „die Juden ebenso selber schuld sind wie die Neger“ am Rassismus – wer um Himmels willen soll so einen Schwachsinn, auch noch schweigend, aushalten? Außerdem: wer sagt, dass nicht irgendwer sich so was auch noch einleuchten lassen könnte? Wird ja immerhin im Theater zum Besten gegeben! Woraus folgt: Mit politischen Giften ist nicht zu spaßen. Befallenes Gewebe gehört auf den Analyse-, den Operationstisch. Daraus entsteht dann unter Umständen ein Seminar, sagen wir über „Tendenzen des neuen Rechtsradikalismus“ (ein alter Adorno-Aufsatz, der auf den Büchertischen der Ruhrtriennale tatsächlich wieder auslag). Nur Theater – das ist damit kaum zu machen. Dass Marthaler gegen die Pamphlet-Collage im zweiten Teil eine konzertierende Revue der ‚guten Opfer‘ positionierte: Theresienstädter Komponisten plus Nono plus Mendelssohn (Marthaler vergaß: Alle diese Komponisten wollten keine Opfer sein!), potenzierte das Gesinnungstheater und entzog dem Spiel endgültig seine musiktheatralische Bodenhaftung. Nach dem Skandal um BDS-kontaminierte Produktionen im ersten Carp-Jahr jetzt also eine devote Übung in politischer Überkorrektheit. Wo soll das denn noch alles enden?
„Dido and Aeneas“
Ob David Marton Adorno gelesen hat, wissen wir nicht. Vielleicht, dass er davon hat Sagen hören. Über seine „Dido and Aeneas“-Produktion jedenfalls könnte er mit Fug und Recht ein Adorno-Zitat schreiben. Eines, das wie kein Zweites als Plädoyer für sein Steckenpferd, das Anlagern, Umstellen, Hinzuerfinden, Weiterschreiben steht. Sollte es tatsächlich stimmen, dass „das Ganze das Unwahre ist“, hätte Marton mit seiner Purcell-Übermalung ins Vollschwarze getroffen. Dank der großzügig eingewebten Kompositionen des finnischen Jazzgitarristen Kalle Kalima konnte er seine einstündige Vorlage glatt verdoppeln. Allerdings war es sicher weniger „das Philosophische“, das Marton hier geleitet hatte. Entscheidender war wohl, dass diese augmentierte Dido+ namentlich in der frei hinzuerdichteten Figur der Venus vor allem der Besetzungsoption in Gestalt der umwerfenden Jazzsängerin, Performerin, Akkordeonistin Erika Stucky geschuldet war.
Doch lag es nun mitnichten an diesen Zutaten des Opern-Werkstätters David Marton, dass man seinen Purcell-Remembered-Abend in der Duisburger Kraftzentrale nachdenklich verließ. Eigentlich wusste man am Ende nämlich nicht mehr so recht, was man gesehen, erlebt hatte: Musiktheater mit Filmanteilen oder einen Film mit Musiktheater-Erinnerungen? Mit der Heilsgewissheit von ersten Zeugen hatte Marton für diese Gemeinschaftsproduktion der Opéra de Lyon und der Opera Vlaanderen ein komplettes Kamerateam auf die Bühne beordert. Nur was nah ist, ist wirklich! Dies das Credo einer Inszenierung, die dramatisches Spiel, dramatische Personenführung letztlich opfern zu können glaubte zugunsten der permanenten Indiskretion einer Kammerdienerperspektive. Wie sehr diese Produktion der Faszination ihrer eigenen Verfilmung erlegen war, bemerkte man an vermeintlichen Nebenschauplätzen wie den Auftritten des Chors der Migranten, die samt und sonders tapsig gerieten als ob Marton vergessen hätte, auch sie abfilmen zu lassen.