Es ist die Mischung aus Beharrlichkeit, Mut, Fantasie und Risikobereitschaft, die man den Protagonisten der „Gesellschaft für Neue Musik Münster“ (GNM Münster) bescheinigen muss. Eine Handvoll Leute initiierte vor 18 Jahren ein erstes großes Festival für zeitgenössische Musik in der Westfalenmetropole – die „KlangZeit 2000“. Das Projekt glückte und kam gut an. Zwei Jahre später folgte das nächste Festival – und so weiter… Trotzdem wird damals niemand damit gerechnet haben, dass dieser ambitionierte Konzertzyklus der GNM Münster Kontinuität entwickeln würde. Hat er aber! Und so gab es jetzt von Ende Mai bis Mitte Juni die jüngste Ausgabe, die zehnte „KlangZeit 2018“. Ein kleines Jubiläum also. Und auch das kam gut an.
Die Akteure der GNM Münster waren sich immer darüber im Klaren, nicht den Rang etwa von Witten oder Köln erklimmen zu können. Aber sie hatten ein klares Ziel: neue Musik präsentieren zu wollen ohne Dogmatismus, ohne Scheuklappen. Deshalb erwies sich auch in diesem Jahr die ästhetische Bandbreite dessen, was zu erleben war, als ziemlich groß. Ein Beispiel: improvisierte Musik vom Trio Walter/Parfitt/Hirt zu dem Film „Heaven & Earth Magic“ des offenbar ziemlich „durchgeknallten“ amerikanischen Allroundkünstlers Harry Everett Smith (1923-1991). Ein Ausflug in surrealistische Sphären in Schwarz/Weiß, bei dem es um eine Frau mit Zahnweh, um Wassermelonen, um das Weltall und wer weiß noch was geht. Noch ein Beispiel: Musik der Arrivierten wie Rebecca Saunders, Salvatore Sciarrino, Moritz Eggert an einem Abend… – allein diese drei Namen dokumentieren die Bandbreite des Festival-Programms, in diesem Fall ausgeführt vom Essener Ensemble „S 201“.
Viel Elektronik gab es bei der zehnten „KlangZeit“, auch hier unter anderem wieder in Verbindung mit Filmen („Sounds & Frames: Bildern Ohren machen“) und unter Einbeziehung von Studierenden der Musikhochschule Münster. Roman Pfeifer (Jahrgang 1976) lieferte mit „Silver Studio“ eine Uraufführung, in der das Element des Tanzes den Raum der Klänge (oder den Klang des Raumes?) in sichtbare Bewegung brachte. Stichwort Raum: das Verhältnis von Raum und Musik zu untersuchen war eine Leitidee der diesjährigen „KlangZeit“ mit elf Konzerten. Sicher keine revolutionäre Idee – aber eine, die maßgeschneidert war im Hinblick auf die ausgewählten Spielstätten wie das „Theater im Pumpenhaus“ mit seiner intimen Atmosphäre, die „black box“ im Kulturzentrum „cuba“. Oder den viereckigen Innenhof direkt hinter dem historischen Rathaus von Münster, in dem 1648 der „Westfälische Friede“ beschlossen und verkündet wurde. Dort steht seit 1993 eine zweiteilige Skulptur aus Corten-Stahl, zwei überdimensionale Sitzbänke, die der baskische Künstler Eduardo Chillida geschaffen und ihnen den Namen „Toleranz durch Dialog“ gegeben hat. In Sichtweite dieser Skulptur und bei gutem Wetter engagierte sich das Ensemble für Neue Musik der Musikhochschule Münster (Leitung: Marion Wood) und präsentierte ein Programm, dem man problemlos das Motto „Resonanz durch Dialog“ hätte geben können: James Tenneys breit fließendes „in a large open space“, John Cages bizarrer „Atlas Eclipticalis“ und die kraftvoll angetriebene „Workers Union“ von Louis Andriessen aus dem Jahr 1975 – also durchaus schon älter gewordene Neue Musik. Gleichwohl hat sie von ihrer Faszination nichts eingebüßt! Was uneingeschränkt auch für Karlheinz Stockhausens noch weitaus ältere „Kontraste“ gilt (hier in der Version nur für quadrophonische elektronische Klänge). Ort dieses Geschehens: der Konzertsaal der Musikhochschule, weitgehend abgedunkelt. Vollends ohne jedes Fünkchen Licht bot der Saal dann nach Stockhausen das Podium für die vier Streicher des „European Music Project“ (Wolf Bender, Salma Sadek, Miriam Götting, Mathis Mayr). Ihr Festival-Beitrag: das Streichquartett Nr. 10 von Georg Friedrich Haas – in absoluter Finsternis zu spielen! Eine Grenzerfahrung für so manchen im Publikum. Aber auch der Zwang zur unbedingten Konzentration auf das einzig Mögliche: das Hören! Die Interpreten wurden (bei Licht) dafür stürmisch gefeiert.
Von Anfang an hatten die Macher der GNM Münster bei der „KlangZeit“ die Ambition, Uraufführungen vorzustellen. So auch diesmal. Die iranische Komponistin Farzia Fallah (Jahrgang 1980) war mit „Ausgedehnter Augenblick“ vertreten, Violeta Dinescus „Trajektorie“ wurde von Gudula Rosa (Flöte) und Marko Kassl (Akkordeon) aus der Taufe gehoben, Tomi Räisänens „Gatekeeper“ erfuhr die deutsche Erstaufführung. Ganz prominent dann – schon des Raumes wegen – drei neue Stücke von Valerio Sannicandro („KERN“), Jeffrey Ching („Carl Philipp Emanuel Bach in the Gardens of China“) und Shih („Wolken und Wellen“). Dies alles im lichtdurchfluteten Riesen-Foyer des im September 2014 eröffneten neuen Museums für Kunst und Kultur des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Sichtweite des münsterschen Doms. Ein faszinierender, 14 Meter hoher Raum mit an den Wänden verlaufenden Treppen, die vom Erdgeschoss in den ersten und zweiten Stock des Gebäudes führen. Eigens für diese Raumsituation hat Shih seine „Wolken und Wellen“ geschrieben und arrangiert, die Interpreten (Chor und Instrumentalisten) sind auf diese verschiedenen Ebenen verteilt, das Publikum wird dezidiert aufgefordert, während der Musik frei durch den Raum zu wandeln. Ein faszinierendes Erlebnis!
Kooperationspartner der „KlangZeit“ war und ist in den letzten Jahren auch stets das Sinfonieorchester Münster. Diesmal steuerte es unter Leitung von Golo Berg (seit Beginn dieser Spielzeit GMD in Münster) jenes Violinkonzert von Peter Eötvös bei, das dieser unter dem Eindruck des 2003 verunglückten US-amerikanischen Space Shuttles „Columbia“ geschrieben hat. Sieben Besatzungsmitglieder kamen damals ums Leben – „Seven“ benannte Eötvös sein Stück, sieben Violinen sind im Raum verteilt und spielen vom Parkett aus. Und vom ersten und zweiten Rang des Theaters. Im Mittelpunkt: Akiko Suwanei, die bereits die Uraufführung von „Seven“ realisiert hat.
„KlangZeit 2018“, die zehnte Ausgabe. Sie setzt die mit spannenden, interessanten und mitunter durchaus auch diskussionswürdigen Begegnungen angereicherten Programme der Vorjahre konsequent fort. Kaum vorstellbar, dass es in 2020 nicht weitergeht. Vorausgesetzt, die Finanzierung stimmt. Diesmal war sie „auf Kante genäht“, ohne dass es jemand gemerkt hätte! Aber auch das ist ein Charakteristikum der Protagonisten der GNM Münster.