Kein Puccini-Jubiläum in Recklinghausen: Beim Gastspiel der Compagnia d’Opera Italiana am 13. Oktober im Ruhrfestspielhaus erwähnt niemand den von der Opernwelt etwas angestrengt gefeierten 100. Todestag Giacomo Puccinis. Denn dieser hat immer Hochkonjunktur. Hier folgen Eindrücke von einem Unternehmen, das für die Verbreitung und den Bestand des Musiktheaters ebenso viel unternimmt wie subventionierte Bühnen. Knappe Personenressourcen geraten in der Aufführung von Puccinis „La Bohème“ zu hoher Authentizität und theatraler Direktheit.
Ohne Jubiläumsschmus: „La Bohème“ mit Compagnia d’Opera Italiana im Ruhrfestspielhaus
Aufgrund der weltweiten Omnipräsenz Giacomo Puccinis im Opernrepertoire zeigt das Jubiläumsjahr um dessen 100. Todestag etwas Müdigkeit und Pflichtverdrossenheit. Sehr schön ist zum Beispiel die Einspielung des Tenors Charles Castronovo von Puccini-Liedern mit dem Münchner Rundfunkorchester. Aber ein wirklich packender Erkenntniskick über den Womanizer und von Versagensängsten geplagten Puccini lässt bis jetzt auf sich warten. Puccinis kompletter „Il trittico“ mit den Einaktern „Der Mantel“, „Schwester Angelica“ und „Gianni Schicchi“ kommt als Lieblingshauptwerk von Regieführenden, Dirigierenden und Intendanzen derzeit überall. Trotz halbszenischer und konzertanter Aufführungen etwa in den Münchner Sonntagskonzerten und bei der Berliner Operngruppe will sich echter Enthusiasmus für Puccinis Opernerstling „Le Villi“ dagegen nicht so recht einstellen. Regie-Einsichten wie die Darstellung des Malers Cavaradossi als italienische Filmikone Pasolini in der „Tosca“-Neuinszenierung der Bayerischen Staatsoper evozieren mehr Gähnen als Begeisterung. Zeitgemäßes wie die Dessauer Neuproduktion von „Madame Butterfly“ fanden bereits vor dem Jubiläum statt: Da brachte sich die Japanerin Cio Cio San nicht wegen gebrochenem Herzen und Ehrverlust um, sondern ging selbstbewusst auf und davon.
Für eher kühle Musiktheater-Maniaks bitter: Puccini funktioniert nur in den seltensten Fällen über den Kopf – am ehesten noch seine von Faschismus-Semantik umflorte „Turandot“. „La Bohème“-Inszenierungen großer Häuser sind auch deshalb oft steinalt und haben bereits für die dritte oder gar vierte Publikumsgeneration Nestwärme-Sog: die von Otto Schenk im Münchner Nationaltheater, die von Peter Konwitschny an der Oper Leipzig, die von Franco Zeffirelli an der Wiener Staatsoper. Die durch ihre Einfachheit bestechende „Bohème“ der seit 1948 durch Europa tourenden Compagnia d’Opera Italiana im Jahr 76 ihres Bestehens ist zwar weitaus jünger, appelliert aber an ähnliche Konsum-Instinkte: Wiedererkennbarkeit, Genussfreude, Emotionen.
Station in dieser Tournee-Runde des ohne öffentliche Zuwendungen auskommenden Ensembles: das Ruhrfestspielhaus Recklinghausen, in dem man nicht nur kult(o)uren, sondern seit einiger Zeit auch heiraten kann – außerhalb der fünften Recklinghauser (Festspiel-)Jahreszeit. Hier hat die Neue Philharmonie Westfalen ihre Hauptkonzertreihe und gibt es das ganze Jahr kulturelle Gastspiel-Grundversorgung aller Sparten. Die Cäcilienhöhe und die Parks bei der Event-Location mit der imposanten Glasfront blieben am 13. Oktober trotz Spielbetrieb ziemlich dunkel. Allenfalls ein Drittel der Plätze war besetzt. Wer sich vom einzigen Barbetrieb in die anderen Räume und Foyers begab, wirkte in den Foyer-Breiten etwas verloren. Es war eine Atmosphäre wie in Erl oder Feuchtwangen außerhalb der Festspielzeit. Man ist froh über die Events und doch ganz zufrieden, wenn man entspannt unter sich bleiben darf. Gemütvolles Gewohnheitsrecht also mit hohem Wohfühlfaktor. Natürlich könnte man auch in eines der zahlreichen nahe gelegenen Theater in NRW fahren. Aber man genießt das einheimische Angebot. Ins Auge stechen einige Musiktheater-Reisende, welche ein ernsthaftes Interesse am Profil und Anspruch der Compagnia d’Opera Italiana zeigen: Oper in einfacher Sprache und explizite Traditionsnähe.
Material und Besetzung haben im Vergleich mit dem Gros derzeit angebotener „La Bohème“-Inszenierungen trotzdem Innovationspotenzial: Von den zehn Chor-Mitgliedern ist im vielstimmigen Satz des Momus-Bildes ein jedes auch Solist*in. Das COROrchestra de Cortona tritt unter Alvaro Lanzano mit 20 Musiker*innen an. Einige Instrumentallinien aus Puccinis dichtem Orchestersatz fehlen demzufolge. Dafür treten die zukunftsweisenden Aspekte des melodiensatten Werks aus dem Jahr 1896 hervor. Die Streicher klingen so fragil, dass man man beim Entstehen der Liebe von Rodolfo und Mimì bereits deren trauriges Ende ins Ohr bekommt. Die oft bei Fortissimo-Stellen dominierenden Pauken suggerieren das Leben als schwarzes Loch und sind damit recht nah an der rosarot verbrämten Burleske des Quellentextes, Murgers Roman „Szenen aus dem (Pariser) Künstlerleben“. Toll, dass es endlich mal keine Surtitel gibt und man durch die deshalb erhöhte Anstrengung des Beobachtens in ein viel aktiveres Beobachten kommt. Die Conference zwischen den Bildern ist allerdings etwas überprotektiv. Alle Hits von „eiskalten Händchen“ bis zum „Alten Mantel“ werden angekündigt, demnach bleiben melodische Überraschungsfunken für Nichtkennende aus.
Schlichtheit verpflichtet. Die Armut und die Bitternis des Handlungsmilieus kommen in diesem personenreduzierten und gut getroffenen Cast viel besser heraus als in größeren Opernhäusern oft lust- und klangvoll unterfütterten „Bohème“-Vorstellungen. Die Freude der Künstlerfreude über einen Ausgang an Heiligabend wirkt echt, das Leid der Richtung Mimìs Schwindsucht-Tod immer inniger singenden Lara Leonardi sehr authentisch. Ricardo Crampton als Maler Marcel, Max Medero als Philosoph Colline, Dario Giorgolè als Musiker Schaunard und Mirco Felici als Vermieter Benoît und ausgebremster Verehrer Alcindoro geben charakterstarke Figuren im Widerstand gegen Kitsch und Boulevard-Eleganz. Bei Eva Macaggis Musetta merkt man, dass der Aufstieg aus einfachen Verhältnissen zum Szenestar glamourös, aber auch schwierig ist. Vladimir Reutov gibt dem Dichter Rodolfo unbeschwerte Forschheit – ein lyrischer Sonnyboy, der in der problematischen Episode mit Mimì die ersten Lebensgebrauchsspuren einsammelt.
Insgesamt ist diese „La Bohème“ ein weitaus ehrlicherer Beitrag zum Puccini-Jubiläum als so mancher Anschub in den subventionierten Kulturzonen. Mit wenigen Möbeln und Requisiten zeigt man, dass armes Theater sehr authentisches Theater sein kann – ohne Bravour- und Exklusiv-Wolken, in denen immer nur ein Teil der Wahrheit steckt.
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