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Foto: Theater Bonn
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Ohne Klischees: „Des Landes verwiesen“ von Juan Allende-Blin in Bonn

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Früher hätte man Dialektik dazu gesagt. Heute sind uns die Worte ausgegangen. Denn was schon sagen, wenn einer sein Ziel erreicht hat, nachdem er einen Umweg gegangen ist? „Bonn Chance!“, sagt jedenfalls das Theater Bonn dazu. Gemeint ist die schöne Reihe des Hauses zum Experimentellen Musiktheater, die jetzt, nach der Trennung vom Forum der Bundeskunsthalle, die erste Premiere im eigenen, im Grunde weitaus angemesseneren Außendepot Theatergelände Beuel erlebt hat.

Eine gelungene, eine wunderschöne Produktion ist zu begrüßen, die man getrost als Wiederentdeckung, als Beheimatung des politischen Theaters der 70er-Jahre in der Unwirtlichkeit des dritten Milleniums ansprechen darf. Was geboten wird? Kein Agitprop, keine Zuschauerbeschimpfung. Nichts Halbwüchsiges, keine Klischees. Stattdessen ein faszinierendes Spiel auf verschiedenen Ebenen, ein Spiel mit allen Ebenen. Modernes Musiktheater. Theater für Erwachsene und solche, die es werden wollen.
Berlin, 1978. „Des Landes verwiesen“ nennt der gebürtige Chilene Juan Allende-Blin ein Stück, das an der Berliner Akademie der Künste uraufgeführt und prompt – vergessen wird. Erst der 80. Geburtstag des Komponisten im vergangenen Jahr, gepaart mit einer Initiative des NRW Kultursekretariats bringt den Anstoß, neu auf eine Partitur zu schauen, die der 1951 immigrierte Komponist aus der Erinnerung an seine Erfahrungen im Elternhaus mit Flüchtlingen vor dem Nazi-Terror gemacht hat.

Nach einem Libretto des französischen Dichter-Philosophen Jean Pierre Faye schreibt Allende-Blin sieben konzertante und szenische Aktionen für zwei Sänger, zwei Schauspieler und neun Instrumentalisten, in Bonn-Beuel vertreten durch Mitglieder des Beet-hoven-Orchesters, umsichtig geleitet von Christopher Sprenger. Es treten auf die Dichter Albert Ehrenstein, Carl Einstein, Erich Mühsam, genauer eigentlich: sie treten aus den Charaktermasken von Alltagsmenschen hervor. Tenor Mark Rosenthal, eben noch Spießbürger im Unterhemd, schlüpft ins Gewand des NS-Flüchtlings Ehrenstein, und Schauspieler Roland Silbernagl begegnet sehr überzeugend als Anarchist Mühsam, von dem seine Mitspielerin verrät, unter welchen Umständen er im KZ Oranienburg ermordet wurde.

Regisseur Florian Lutz und seine kongeniale Ausstatterin Andrea Kannapee haben sich ans Collageprinzip des Komponisten gehalten, haben bei moderater Umstellung der Szenenfolge im scheinbar Unverbundenen eine raffinierte Zahnradmechanik freigelegt. Alles fängt scheinbar harmlos an. Ein Abendbrottisch. Man isst, man trinkt, man schwätzt. So lang, bis in Gestalt einer nach guter Straßenmusikanten-Manier bettelnden Flötistin (Mariska van der Sande) die Gegenwelt Einlass begehrt. Von da ab nimmt das Stück Fahrt auf, dreht sich hinein in einen Strudel aus verunsicherter Gegenwart und drängender Erinnerung an eine Vorvergangenheit, bis ein dramaturgischer Clou (der hier aus Spannungsgründen keinesfalls verraten werden darf) alles noch einmal umkrempelt und neu sortiert. Nicht versäumen.

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