Umberto Giordano gehörte zu jener Gruppe italienischer Komponisten, die Ende des 19. Jahrhunderts die Oper ihrer Realitätsferne entreißen wollten um Geschichten aus dem wahren, wirklichen Leben zu erzählen. Dieses neue Genre firmiert unter dem Begriff „Verismo“ – und Giordanos „Siberia“ ist dafür ein leuchtendes Beispiel. Die Oper Bonn präsentiert nun dieses zweistündige Werk, das in Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen dortselbst bereits im Sommer letzten Jahres herauskam und bei der Premiere in Bonn lebhaft bejubelt wurde.
Wenn das nicht wahre Liebe ist! Eine Frau gibt ihre gesicherte Existenz, ihr bequemes Leben in Sankt Petersburg auf und folgt ihrem Geliebten. Wohin? In ein sibirisches Straflager! Darum geht es in Umberto Giordanos „Siberia“, 1903 an der Mailänder Scala mit großem Erfolg uraufgeführt.
Regisseur Vasily Barkhatov schildert das Schicksal von Stephana und Vassili: sie ehemals eine Kurtisane, die sich inzwischen in elitären Kreisen bewegt; er ein junger Offizier, verliebt in Stephana. Natürlich gibt es im Hinblick auf diese Beziehung „Rivalen“: den etwas rustikalen Kuppler Gleby und den properen Fürsten Alexis. Beide wollen Stephana für sich allein. Beide aber haben das Nachsehen, denn Stephanas Liebe gehört Vassili. Im Streit mit Fürst Alexis verletzt er diesen, mit der Konsequenz, deshalb ins sibirische Straflager verbannt zu werden. Die Regie zeigt – ganz im Sinne des „Verismo“ – echte Menschen mit echten Gefühlen und ist somit ganz nah „dran“ an Umberto Giordanos Musik. Ein Klangtableau voller Spannung, Dramatik und Leidenschaft, angereichert mit russischem Kolorit, wie gleich zu Beginn, wenn der Chor orthodoxe liturgische Musik intoniert. Später wird mehrfach das „Lied der Wolgaschlepper“ zitiert und verarbeitet. So klingt Russland in der Lesart eines Italieners zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Findiger Regiekniff aus Rückschau und Familienforschung
Der Plot ist ziemlich simpel, bietet aber reichlich Stoff für schöne, anrührende, im besten Sinne zu Herzen gehende musikalische Momente und aussagekräftige Bilder, für die Christian Schmidt ein sehr praktikables Bühnenbild bereitstellt. Ein mondänes Stadtpalais in Sankt Petersburg, ein Straflager in den Transbaikal-Minen... zwischendurch mutiert die Bühne zu einem nüchternen Saal: ein Archiv mit Hunderten Regalen und Tausenden Schubladen, irgendwo in Sibirien. Hier sucht eine alte Frau nach Dokumenten. Eine Frau aus der Jetztzeit, die sich schon gleich zu Beginn der Oper (per Video-Sequenz) auf die Reise gemacht hat, um Licht ins Dunkel ihrer Familiengeschichte zu bringen. Diese alte Frau (herausragend: Clarry Bartha) ist die „Zutat“ des Regisseurs und durchzieht quasi omnipräsent den Verlauf der Handlung, die dadurch im Heute verortet wird. Es ist die im Straflager geborene Tochter von Stephana und Vassili und sie umklammert eine Urne mit der Asche ihres verstorbenen Bruders. Sie wird in der Rückschau späte Zeugin der letzten Stunden ihrer Eltern, die bei der gescheiterten Flucht aus dem Lager erwischt werden – ein Versuch, der für Stephana nach einem Gewehrschuss tödlich endet.
Klangsphären, in die man sich fallen lassen kann
Was diesen Abend zum Ereignis macht, ist die musikalische Umsetzung. Das Ensemble der Bonner Oper funkelt geradezu voller blitzender Juwelen. Auch dem Chor schreibt Giordano eine gewichtige Rolle zu. Dieser stellt sich seiner Aufgabe mit Emphase (Einstudierung: Marco Medved) und sorgt für eine traurig-sehnsuchtsvolle, stets im Raum schwebende, Grundstimmung. Die Besetzung der kleineren Rollen lässt auch keine Wünsche offen und so rundet sich alles zu einem Ganzen, in das sich die tragenden Rollen nahtlos einfügen.
George Oniani ist als Vassili ein Naturbursche, der unerschöpflich kraftvoll seine Liebe zu Stephana bekräftigt und sich deshalb auch zu einigen Torheiten hinreißen lässt. Das Gegenteil von ihm ist Giorgos Kanaris, der Kuppler Gleby – ein mit allen Wassern gewaschener Emporkömmling, der sich anzupassen und Intrigen zu schmieden versteht. Kanaris beglaubigt das mit biegsamer, makellos changierender Stimme.
Yannick-Muriel Noah ist schlichtweg ein Ereignis! Sobald sie als Stephana zu singen beginnt, ist ihr absolute Aufmerksamkeit gewiss. Sich einmal über die Liebe zu Vassili im Klaren, lässt sie sich durch nichts mehr davon abbringen, vollkommen zu ihm zu stehen – auch wenn diese Entscheidung sich letztlich als fatal erweisen wird. Viel Liebesglut, viel Gewissheit legt Noah in ihre wunderbar timbrierte und raumgreifende Stimme, mit jedem Ton glaubwürdig.
Daniel Johannes Mayr am Pult des Beethoven-Orchesters entfacht puren Verismo-Wohlklang: Russland-Stimmung wie von der Kitsch-Postkarte? Kein Problem! Ständig wechselnde Emotionen, bis ins Äußerste ausgereizt? Auch kein Problem! Das sind Klangsphären, in die man sich fallen lassen kann.
Sehnsucht, Liebe und Tod in einer einfachen Geschichte mit grandios interpretierter Musik – das soll, darf und muss ab und zu mal sein. Zwei Stunden, zwar mit tragischem Ausgang, aber voller Klangseligkeit. Ohne Reue genossen.
Weitere Aufführungen: Sa. 18.03., Fr. 31.03., So. 02.04., Do. 20.04., Sa. 03.06. Fr. 09.06.