Performance und interaktives Musikerleben werden im Radialsystem Berlin an Schnittstellen zwischen Musik, Tanz und Performance oder mit interaktiven Konzert-Formaten ganz groß geschrieben. Deshalb war es absehbar, dass man diese stark akklamierten Veranstaltungen nicht nur wegen des Pandemie-bedingten Klimawandels bis zum breiten Band zwischen Improvisation und Jugendarbeit erweitern würde. Roland H. Dippel machte einen Online-“SCHRUMPF! Splitter“-Act im Radialsystem Berlin mit. Natürlich Online.
Die 23 Musiker*innen des Splitter Orchesters, das für die Initiative „SCHRUMPF! Musik & Theater & Tanz in Klein“ antritt, sind auch Komponist*innen und verfeuern unter einer einer Vielzahl von Modultiteln beachtliche Mengen an Munition aus ihren jeweiligen Sparten Instrumentalmusik, Rock und Pop. Aber es geht (noch) nicht um die durch Klickzahlen und Verweildauer gestärkten Quoten, sondern um die vertrauliche Anrede, wenn sich die Moderatorin, Violinistin und Performerin Daniella Strasfogel mit ihren LOUDsoft-Projekten aus der Covid-19-Zwangspause zurückmeldet. Sie empfängt Gäste in Zoom-Konferenzen, zum Beispiel am Sonntag in gleich sechs Vermittlungseinheiten von knapp 45 Minuten an einem Tag: Punktgenau durchdacht ist so eine Online-Session – wie eine didaktisch souveräne Schulstunde.
Die bargeldlose Bezahlung in eine Kasse des Vertrauens ermöglicht die Freischaltung für beliebig viele Personen, die Höhe des Beitrags ist freiwillig (0,50 € bis max. 20 €). Teilnehmende haben die Wahl, selbst zu übertragen oder nur akustisch dabei zu sein. Die vorab versandte Gebrauchsanleitung liest sich wie ein umsichtiger Elternbrief betreffend Musiktherapie oder Kunsterziehung. Als Hilfsmittel wird alles gern gesehen, was laute und deutliche Geräusche macht – vom Kamm bis Kochtopf, der mit Kochlöffel zum Drum-Instrument wird. Unerwähnt bleiben allerdings Scherz-Klassiker wie Wasserbombe oder harte Kerne in verschlossenen Behältnissen. ‚Richtige‘ Instrumente sind natürlich auch zugelassen, allerdings nicht Bedingung. Oder es darf zu exklusiven Orchesterklängen gemalt werden. Vielleicht ist es im Musizierraum des Radialsystems, wohin Daniella Strasfogel ihre Zoom-Gäste geleitet, nur deshalb so düster, weil man die jungen Zuschauer im Vorschulalter nicht auf originelle Ideen zur Lärmerzeugung bringen will. Die Improvisationen haben nämlich System und gründen auf Modulen des Splitter Orchesters, bei denen man auf den ganz feinen Unterschied zwischen „Echtzeitmusikszene“ und sog. „freier Improvisation“ achtet. Doch diese ästhetischen Expertisen stehen auf einem anderen Blatt.
Etwa zwölf Cams sind bei meinem Besuch der didaktischen Vorführung um 15:00 zugeschaltet, etwa ein Drittel der Teilnehmer partizipiert mit ausgeschalteter Kamera. Die von den Konzertgästen gewählten Namen verraten meist wenig über den (Patchwork-)Familien, Single- oder Angehörigen-Status der Online-Gäste. Meistens blicken Familien mit jüngeren Kindern ins digitale Konzertklassenzimmer: Ein Mädchen mit Geige, bereits erhobenem Bogen und Wieselblick wartet auf den Startschuss zum eigenen Meisterinnensolo. Ein junger Vater hat an der Didaktik-Performance entschieden größeres Interesse als sein dem Windelalter nicht ganz entwachsener Sohn, der artistisch formidable Krabbelkunststückchen auf dem Sofa beisteuert. In den zugeschalteten Privaträumen ist es viel heller als im Konzertraum des Radialsystems. Die meisten Gesichter zeigen weniger die heitere Gelassenheit oder emphatische Hochstimmung wie bei einem Konzertbesuchs als die konzentrierte bis lässige Aufmerksamkeit für eine Weiterbildung, bei der es mit neuem Lernstoff gleich ernst wird.
Das Etikette-Protokoll sitzt: Erst kommt die Vorstellrunde mit freundlichen, aber nicht zu trendigen und keineswegs flapsige Sätzen von ausgewählten Mitgliedern aus Orchester und Stab. Klassische Musik, Jazz oder Genres mit melodischen Ansätzen stehen nicht im Mittelpunkt. Die Flötistin zeigt ihr Instrument mit Atemstößen und erst zum Schluss mit einer Tonfolge. Empfohlen wird zu Recht der Gebrauch externer Lautsprecher: Aus dem Laptop-Lautsprecher wird das improvisierte Tutti zum babylonischen Musik-Kauderwelsch, das klingt wie ein mit Tröte und Mundharmonika erzeugter Cluster.
Wie in jeder pädagogisch versierten Unterrichtseinheit gibt es zwei Durchgänge. In der ersten geht es um konzentriertes Zuhören, in der zweiten um aktives Mitgestalten. Es folgen eine Fragerunde und schließlich das individuelle, in der Erinnerung haftende Verabschiedungsritual: Den Countdown von 10 bis 0 stützt das Splitter Orchester mit je einem Akkord. Dann sind alle weg und die Übertragung aus. Ein echtes kleines Konzert streamt danach immer im Anschluss auf Facebook.
Allerdings hat der Weg Daniella Strasfogels von der Begrüßung an die Gäste in den Raum mit dem Orchester eine dramaturgische Lücke. Was bei der Eindunklung des eigenen Wohnzimmers zur Kinderbescherung im besten Falle magisch wirkt, rutscht voll ins fast Schwarze. Das Potenzial der Video-Konferenz ist anderen Wirkungsgesetzen unterworfen als ein Live-Konzert.
In meiner Runde gab es am Ende aus der Zuschauergruppe zwei Fragen: Warum kann eine Trompete wie eine Posaune aussehen? Der Spieler erklärt plausibel den Instrumententyp eines Blechinstrumentes, das Ventile und einen Zug hat. Bei der bis dahin pädagogisch vorbildlichen Sinnfälligkeit des „SCHRUMPF! Splitter“-Präsentationsmoduls wirkt es fast beruhigend, wie die weitere Frage beantwortet wird. „Irgendwie funktioniert es immer.“ Gemeint ist die passgenau musikalische Reaktion, wenn ein*e Musiker*in eine schwierige Improvisation losschießt, die allen anderen bis dahin unbekannt ist und sie deshalb außergewöhnliche Herausforderungen beinhaltet. Lernziel erreicht.
Es sind auch Cams ohne Kinder in dieser Online-Musikvermittlungskonferenz. Meine erste private Chat-Anfrage, was denn der Grund für den (virtuellen) Besuch dieser Veranstaltung sei, wird vom Adressaten, der sich darauf ausklickt, ignoriert. Auf die zweite antwortet eine Musikerin, die sich das Format aus pädagogischem Interesse anschaut, obwohl ihre eigenen Kinder für dieses Format schon zu groß sind.
Diversifizierung total: Die Gruppen der Ausübenden und der Rezipienten lösen sich auf, es entsteht das neuartige Gegenüber von Moderator*in und Teilnehmenden mit verschiedenen Rollen, die austauschbar sind. Auswirkungen auf das Konzertleben mit seinen bislang unverrückbaren Verhaltensmustern und Ritualen ungewiss.