Schon die Ouvertüre ist ein dunkel treibender Strom aus Sehnsucht, Geheimnis, Bedrohung. Manisch rotierende Figuren ziehen durch wogende Harmonien wie in Bernard Herrmanns Musik zu Hitchcocks Filmklassiker „Vertigo“. Der Sog wird beim Live Release des interaktiven Videoopern-Computergames „Kairosis“ jedoch unterbrochen. Denn im Saal des Seilerbahn Kunst Kultur e.V. im Frankfurter Süd-Osten müssen Komponist Moritz Eggert und Klarinettist und Produzent Moritz Schneidewendt erst einmal allen Mitwirkenden danken und erklären, wie das Publikum per Abstimmung den Fortgang der von Eggert erdachten Verschwörungs-, Liebes-, Hass- und Mordgeschichte mitbestimmen kann.
Opake Open-Online-Opern-Optionen
Schauspielerin Elena Fellisch verkörpert als zentrale (Spiel-)Figur eine junge Komponistin, deren soeben bereits gehörte Ouvertüre vom Broken Frames Syndicate unter Leitung von Lautaro Mura Fuentealba einstudiert wird. Die Musikerinnen und Musiker der 2018 aus der Internationalen Ensemble Modern Akademie in Frankfurt hervorgegangenen Formation agieren gleichzeitig als Musikprofis und Laiendarsteller. Mitten in der Probe brechen sie plötzlich ab und verlassen den Raum. Warum? Was ist los? Welche Konflikte gibt es? Das herauszufinden ist Aufgabe des als Stummfilm mit Instrumentalmusik ohne Sprache und Gesang angelegten Online-Spiels. Wie einst in Henri Pousseurs variabler Oper „Votre Faust“ (1969) auf ein Libretto von Michel Butor öffnen sich nach dem Modell „Chose your own adventure!“ an bestimmten Stellen mehrere Optionen. Der altgriechische Titel „Kairosis“ benennt eben diese Suche nach dem entscheidenden Moment am richtigen Ort. Soll die Komponistin dem Dirigenten folgen? Oder der Flötistin nachgehen? Im ersten Fall wird sie vom Dirigenten kurzerhand mit einer Tasse Tee vergiftet. Game over! Die Handlung springt zur geplatzten Probe zurück. Im Zimmer der Flötistin hört und sieht man die Musikerin einfach ein schönes Solo blasen. Erst ein Anruf beim Dirigenten treibt die Handlung weiter ins Freie.
Im Hof bemerkt die Komponistin den Laserzielpunkt eines Scharfschützen auf ihrer Brust. Soll sie diesen ignorieren oder ins Haus fliehen oder in den Wald laufen? Das Publikum entscheidet mehrheitlich, die Frau erst einmal durch den Wald rennen zu lassen, von wo aus sie dann ebenfalls in den Probensaal gelangt. Das hätte man also direkt haben können. Im Saal kann man die Komponistin nun entweder zum herumsitzenden Streichquartett gehen lassen, oder zur abseits Zeitung lesenden Schlagzeugerin oder zum vor sich hin klimpernden Keyboarder, der eine nette Auswahl an Stücken anbietet, aber keine weiterführenden Informationen. Dagegen sieht die Komponistin auf der Titelseite der Zeitung ein Foto von sich mit dem Aufmacher „Der Präsident und die Komponistin – ist es Liebe!?“. Der dann abermals erscheinende Laserzielpunkt führt zu erneutem Knockout. Doch immerhin konnte man so einen ersten von insgesamt zehn „Geheimnispunkten“ ergattern, die es möglichst alle zu entdecken gilt, um die mysteriöse Geschichte aufzuklären.
Die Solostücke sind meist Sackgassen für die Handlung, bieten aber Gelegenheit, in Ruhe Musik zu hören, gegebenenfalls auch mehrmals. Denn von hier gelangt man zurück zur vorherigen Situation, etwa erneut ins Dirigentenzimmer, wo aus dem Radio immer noch dieselbe düstere Hymne ertönt. Die labyrinthischen Handlungsstränge verzweigen sich immer mehr. Soll man der Erinnerung der Komponistin oder des Dirigenten folgen? Soll sie ihn küssen oder weggehen, in eine schwarze Limousine steigen oder nicht? Soll der Dirigent das klingelnde Telefon abnehmen oder ignorieren? Schließlich sitzt die Komponistin im Konzertsaal neben dem „Präsidenten“, der ihre Hand ergreift. Gemeinsam lauschen sie der Aufführung ihres Stücks, als plötzlich ein Schuss knallt und sich ihr Gesicht verzerrt. Ein mögliches „Fine“. Doch über andere Pfade gelangt man vielleicht zu einem Happy End?
Der seit je für neue Formate offene Moritz Eggert schrieb die Solo- und Ensemblestücke nach eigenem Drehbuch noch ohne die später gedrehten Filmszenen gesehen zu haben. Entsprechend dem tragischen Schicksal der Komponistin überwiegen traurige Melodien, dunkle Mollakkorde und melancholische Sequenzen. Eingespielt und gedreht wurde „Kairosis“ in der Regie und Kameraführung von Urs Felix Bauer auf dem Fabrikgelände der alten Seilerei an der Offenbacher-Hauptstraße, das über verschiedene Säle verfügt, auch über Café, Skulpturenpark, Bäckerei, Bienenzucht, biologischen Obst- und Gemüseanbau sowie Ateliers für Bildhauerei, Malerei, Musik, Tanz, Goldschmiedekunst, Architektur und Yoga. Neben dem Broken Frames Syndicate sind hier regelmäßig auch andere Akteure zu Gast, etwa die Frankfurter Gesellschaft für Neue Musik. Dank „Kairosis“ kann man sich den tollen Ort nun auch vom heimischen Computer aus erspielen.
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