Seit dem Antritt von Intendant Oliver Graf am Theater für Niedersachsen in Hildesheim wurde „1+1+1 das trilogie-event“ zu einer Institution, zum dritten Mal jetzt am 30. Oktober 2022 mit „Hamlet“: Drei Vorstellungen auf einen Streich – um 11.00 Uhr Tanz, um 15.00 Uhr Oper, um 20.00 Uhr Schauspiel. Dazwischen Podiums- und Werkstattgespräche, Stückeinführungen, Rahmenprogramme und ein Film. Am „Hamlet“-Tag gab es natürlich keine Premieren. Mit ihren „Hamlet“-Projekten hatten die Sparten Tanz am 10. September, Schauspiel am 4. September und Musiktheater am 3. September die Spielzeit 2022/23 eröffnet. Letzteres war eine spannende Adaption von Francesco Gasparinis „Ambleto“-Bruchstücken durch Fredrik Schwenk.
Bei „1+1+1. das trilogie event“ rückt nicht nur das Publikum zusammen, sondern auch die einzelnen Sparten. Die Zielsetzung des Theaters für Niedersachsen reicht durch mehrere Bereiche: Weil „Hamlet“ zum Prüfungsstoff des niedersächsischen Abiturs 2023 gehört, ist der Run aus den Schulen auf die Vorstellungen absehbar. Mit der Musiktheater-Entdeckung „Ambleto“, für die der in Hamburg lebende Komponist Fredrik Schwenk (geb. 1960) die nur als Songbook überlieferten Arien aus Francesco Gasparinis Oper (1705/1712) um Rezitative ergänzte, kitzelte man das Interesse überregionaler Tages- und Kulturmedien. Wie bei Erstbegegnung am für ein komplettes Handlungs- und Assoziationsballett sehr jungen Tag zu konstatieren ist der Tanz in Hildesheim eine Klasse für sich.
Ausstattungsleiterin Anna Siegrot berücksichtigte in einem Einheitsbühnenbild für das „Hamlet“-Tripel die Visionen von Tanz, Musiktheater und Schauspiel. „Nichts ist geheimnisvoller als eine geschlossene Tür“ steht über dem Aufsatz zu Siegrots Procedere in den drei Stückprogrammheften. Damit sind nicht auch die wahren, falschen, gefälschten und manipulierten Informationen, die für die „Hamlet“-Handlung großes Gewicht haben, gemeint. Sie funktionieren für sich und bilden in übereinander gesetzten Reihen den konkreten Anblick einer Hauswand. Am „Hamlet“-Tag nützt sich diese Visualisierung nicht ab, offenbart durch Farbe, Licht, Anordnung der Dekorationselemente und Requisiten vor allem beim Schauspiel einen erstaunlich variantenreichen Entwicklungsraum.
Wie die Stückinhalte selbst. Beim Opern-„Hamlet“ sieht es mit der poetischen Aura eher prosaisch aus, obwohl Fredrik Schwenks Ergänzung von Gasparinis Arien-Organen einen praktikablen Opern-Organismus mit Polyvalenz, psychologischen Reibungen und Vitalität ergibt. Fredrik Schwenks mit dem Dirigent Florian Ziemen getroffene Entscheidung, ausschließlich kreative Ressourcen aus dem Ensemble zu nutzen, steht konträr zu den paradigmatischen Planquadraten der Alten wie der Neuen Musik: Es gibt weder archaische Klangwirkungen durch Spezialinstrumente noch Gäste mit Spezialkompetenzen wie die inzwischen fast obligaten Counterstimmen. Schwenk ließ die Melodieführung der erhaltenen Arien Gasparinis weitgehend unberührt und setzt einen stilistischen Bogen zu seinen eigenen Vertonungen der Rezitative und Instrumentationen. Diese erweisen sich als hintergründiger, da unspektakulärer Seitenhieb auf die in die Jahre kommenden und deshalb ihre Stachel verlierenden Verstörungskonventionen der Neuen Musik: Das Vermeiden exponierter Strapazierung der Gesangsparts und ein mit modernen Rhythmen aufgefächerter Orchestersatz ergeben Schwenks stimmenreiche, differenzierte und instrumental abwechslungsreiche Partitur, die der Szene viele Aktions- und Interpretationsmöglichkeiten zuspielt. Diese wurden von der Regisseurin Amy Stebbins allerdings nur marginal genutzt. Trotz einer von allen Mitwirkenden enthusiastisch getragenen Ensembleleistung bewegen sich die Figuren relativ kühl durch das an totalitäre Systeme der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemahnende Grau, zu dem im zweiten Teil Chorstimmen von der Hinterbühne singen. Aus dem Ensemble ragen Julian Rohde und Felix Mischitz mit satter bis weicher Intensität heraus, Yohan Kim zeigt einen Tenor mit farbreicher Kondition und Ausdruckskraft. Schwenks Neue Oper hat Belcanto-Ambitionen, die sich nicht anbiedern.
Nur fünf Tänzer braucht die Choreographin Yamila Khodr für ihre „Hamlet“-Phantasie, zwei von ihnen sind die beiden Seelen in der Brust des Dänenprinzen. Albrecht Zieperts holt Sound Designs aus dem Dark Rock, vibrierend langsamen Chills und viktorianischem Klangkolorit von Glockenschlägen bis frei assoziierbarem Klangmaterial. Zwei Stärken zeigt Khodr. Zum einen kann sie mit ihrer suggestiven Figurenarbeit auch die Musik verdichtend aufladen, so dass aus Tönen Drama und dessen Bewegungen Affekt wird. Sie konzentriert sich auf die mit ihren Figuren möglichen Trieb- und Chaosmomente. Faszinierend David Pallants Solo mit den Ineinander von Penetrationsgier, Antriebsschwäche und Selbstermächtigung des Usurpators Claudius. Ausdrucksstark, aber unter diesen Figuren dennoch klein dimensioniert, stürzt sich Camille Jackson auf Gertrude als an zwei Enden brennende Kerze. Ohne subtilen Text muss die ehebrüchige Königin an Tiefgang und Vielschichtigkeit einbüßen. Maria Pasadaki hat es leichter, bereits bei Shakespeare stellenweise mit spitzer Zunge wehrhafter Ophelia in ein differenziertes Schattieren des Wahrnehmens, Wartens und Erwägens in Bewegung zu transformieren. Die Doppelrolle Hamlets offenbart sich als intelligenter Coup, weil sich die Figur erst allmählich erschließt. Khodr polarisiert die physischen und künstlerischen Temperamente von Antonio Carta und Sami Similä und schweißt sie dann in kanonischen, supplementären, spreizenden und harmonischen Bewegungen aneinander. Dieses tänzerische Ereignis gibt keine einfache Bebilderung einer in ihrer Wirkungsgeschichte noch mehr aufgeladenen Figur, sondern fragt vielmehr: „Wer und wie sympathisch ist Hamlet?“ Zwischen den Aufführungen gab es diese Frage immer wieder und fand nach dem Widerhall in den ausgeprägten ästhetischen Handschriften der drei Stücke ihren Weg auch ins Publikum. Erfolg total.