Wenn die Komische Oper eine Produktion als konzertant ankündigt, dann beweist in der Regel das spielfreudigste der Berliner Opernhäuser, dass auch konzertante Versionen durchaus mit szenischen Überraschungen aufwarten – wie etwa Kálmáns „Arizona Lady“. Im sogenannten Mozart-Mai dieses Hauses waren die Überraschungen bei „Lucio Silla“ allerdings anders gelagert.
Das Dramma per musica in drei Akten des sechzehnjährigen Mozart zeugt von erstaunlicher Reife und weist mehr als einmal musikalische Topoi auf, die auch in den Reifewerken zu finden sind, ja die plötzliche Milde des in seinem Hin- und Hergerissenseins faszinierenden Diktators Lucio Silla nimmt überdeutlich Mozarts letzte Seria-Oper „La Clemenza di Tito“ vorweg.
Ungewöhnlich, dass vor der zweiten Arie des Cinna als ein neuzeitlicher Deus ex machina der Inspizient (?) auftrat und mit wohl gewählten Worten und witzigen Vergleichen zum politischen Parkett Roms darauf hinwies, dass die Sängerin des Cinna (Mirka Wagner) nach ihrer ersten Arie einen Schwächeanfall erlitten habe, weshalb die zweite Arie heute wegfallen müsse, das Publikum sich aber darauf freuen dürfe, dass die Sängerin bei der nächsten Vorstellung am kommenden Mittwoch sicher wieder gesund und diese Arie dann zu erleben sei.
Vor dem Entfallen der dritten Arie trat der Ansager jedoch nicht erneut in Erscheinung. Und auch ohne diese beiden Arien des Freundes Cinna des Freundes Cecilio der vom Diktator begehrten Giunia überschritt der pausenlose Abend, vielleicht auch wegen des nicht einkalkulierten Applaudierens nach den einzelnen Arien, die angekündigte Dauer von zwei Stunden.
Ohne die beiden Arien von Cinnas Freundin Celia (Julia Giebel), zugleich Schwester des Diktators Silla, wäre der um die Secco-Rezitative verkürzte Ablauf noch konziser gewesen und hätte sich musikalisch dann auch auf einheitlich hohem Niveau bewegt.
Für die Einsätze des von David Cavelius einstudierten, hier wirklich einmal – was für dieses Haus mehr als ungewöhnlich ist – statischen Chores hebt sich der rote Vorhang hinter dem Orchester und senkt sich nach dem Ende der Chornummern sogleich wieder.
Hahn im Korb der Damen-Riege von Frauen- und Hosenrollen ist Lothar Ondinius. Dieser Tenor vermag die Accompagnato-Rezitative überaus spannend vorzutragen. Er gestaltet auswendig, denn im Gegensatz zu seinen Kolleginnen, bedarf er der Noten nicht – auch wenn er sie als Kavalier, um diese Diskrepanz nicht zu sehr hervorzukehren, doch mit sich führt. Der Farbenreichtum dieses Sängers zwischen Liebe, Leidenschaft und Grausamkeit ist die eigentliche Sensation dieses Premierenabends, da wird die Oper pur doch zu einem Musiktheater-Erlebnis.
Besonders gefeiert wurde die weltweit als Königin der Nacht gefragte Olga Pudova in der noch koloraturreicheren Partie der Giunia, faszinierend mit ihrer kernigen Stimmgebung und mit gefüllten Piani, gurrend wie ein Vögelchen in dynamisch von einander abgesetzten Koloraturketten und mit einer in Richtung Zerbinetta weisenden Kadenz.
In der bei der Uraufführung, 1772 im Teatro Ducale in Milano vom Kastraten Venanzio Rauzzini gesungenen Partie des Cecilio, des als Sillas Gegenspieler verbannten Konsuls, obsiegt mit sattem Alt und sauberen Koloraturen Karolina Gumos.
Dirigentin Kristiina Poska setzt von Anfang an auf hohe Dramatik, atmet mit den in ihrem Rücken agierenden Solisten und formt mit den Lippen deren Textgestaltung, im Sinne einer sehr homogenen Ausdeutung der italienisch gesungenen Aufführung. Der Text ist diesmal nicht auf den Vordersitzen mit-, sondern nur – allerdings auf den Wortlaut der Arien, also ohne Accompagnatos, reduziert – im Programmheft nachzulesen.
Die mit Hervorhebung ihrer Rolle als Tatort-Staatsanwältin angekündigte Schauspielerin Mechthild Großmann führt durch die Handlung im alten Rom. Sie trinkt dem Publikum schon während der Ouvertüre ein Glas Wasser vor, sicherlich in Kenntnis von Tucholskys diesbezüglichem, ironischem Vorschlag für Sprecher, dem Publikum öfter mal ein Glas Wasser vorzutrinken, „das liebt es!“. Mit basslastiger Stimme bringt die früher in Pina Bauschs Ensemble herausragende Darstellerin durch Verdeutlichung der Diskrepanz zwischen Historie und humanistischer Aufklärung in der italienischen Oper Witz in diese Opera seria.
Nachdem am Ende der Opernhandlung alle auf der Bühne Sillas Großmut gepriesen hatten, brach auch das Premierenpublikum des allerdings merklich schlecht besetzten Hauses in ungeteilten, heftigen Jubel für alle Beteiligten aus.
Nächste Aufführung: 13. Mai 2015.