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Oratorium in der Nicolaikirche. Foto: Deutscher Katholikentag
Oratorium in der Nicolaikirche. Foto: Deutscher Katholikentag
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Oratorium zum Katholikentag 2016 – Uraufführung von Sir Colin Mawbys „Ecce homo“

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Flaue Zeiten für sakrale Musik … keineswegs! Es lag auch im Kalkül der Veranstalter, den 100. Katholikentag mit stark ökumenischen Akzenten in der sonst nicht gerade für religiöse Prägungen bekannten Messe- und Kulturstadt Leipzig zu feiern. Am zweiten Abend kam gab es in der Nikolaikirche, einer der Wirkungsstätten von Thomaskantor Johann Sebastian Bach und heute vor allem als Schauplatz der friedlichen Revolution 1989 gewürdigt, die repräsentative Uraufführung des Großereignisses.

Dem Anlass angemessen groß war der Publikumsstrom zu dem breit aufgestellten 65minütigen Sakralwerk mit Massenwirkungen in internationaler Besetzung. Die anwesenden Gläubigen fielen sofort, ohne Gedankenpause, nach dem Schlusstakt mit heftigen, nicht allzu lange währenden Applausattacken ein. Den Kompositionsauftrag empfing kein Geringerer als der Brite Sir Colin Mawby, der erst am 9. Mai 2016 seinen 80. Geburtstag gefeiert hatte, die Ovationen mit Understatement entgegennahm und den Mitwirkenden glücklich dankte. 36 Messen, 100 Psalmenvertonungen, zwei Kinderopern und andere Werke stammen aus der Feder des Komponisten, dem Papst Benedikt XVI. 2006 den Gregoriusorden verliehen hatte.

Ein riesiges Aufgebot gab es in der Nikolaikirche: Hinter zwei Solisten und der Camerata Lipsiensis standen die Dresdener Kappellknaben (Einstudierung: Matthias Liebich), der Mädchenchor am Kölner Dom (Einstudierung: Oliver Sperling), die Biederitzer Kantorei (Einstudierung: Michael Scholl), das St. Eugenia Vocalensemble Stockholm (Einstudierung: Ulf Samuelsson) und das Vocalkonsort Leipzig (Einstudierung: Michael Gillies, Frederico Baron Mussi). Keine Notiz kündete von der Anzahl der Choristen und der Musiker im Orchester mit drei Schlagzeugern.

„Ecce homo“ zeigt den Anspruch zu einer repräsentativen Sakralmusik und auch die Bemühung um den sich in der Textdramaturgie spiegelnden Respekt vor Andersdenkenden. Das Werk folgt keiner dramatischen oder affektiven Grundsituation. In insgesamt vierzehn Sätzen wählte Mawby Texte mit Auszügen aus dem „Stabat mater“ („O quam tristis“), dem Osterhymnus „Exsultet iam angelica“, Psalm 148, Auferstehungsrufen, die Seligpreisungen der Bergpredigt, Gottes Klagen über das auserwählte Volk und einen keltischen Friedenssegen. Es wird gesungen in englischer, deutscher, lateinischer und griechischer Sprache. Eine Klammer bildet der von Mawby überformte Choral „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ von Georg Neumark und Bach in insgesamt drei Sätzen.

Auftraggeber für die Partitur waren der Kirchentag mit dem Thema „Seht, das ist der Mensch“ und die Stiftung Friedliche Revolution. Das Werk ist überdies eine erinnernde Huldigung an Christian Führer (1943-2014), den Gemeindepfarrer der Nikolaikirche und eines der führenden Köpfe der Wiedervereinigung, der späteren Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV und weiterer von ihm streitbar angegangener Anliegen. Sakraler und humaner Gedächtniswert kommen in Mawbys „Ecce homo“ zur vollendeten Synthese.

Der Blick auf den Menschen ist das Thema des Oratoriums, das die christologischen Texte in einen nicht nur spirituellen Kontext stellt. Der sakrale Gehalt hat keine Dominanz über die Gedenkanlässe im Ort der Uraufführung. Diese inhaltliche und musikalische Faktur dürfte wohl keine christliche Gruppierung oder Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften irritieren.

Wie die Besetzung mit schwedischen, britischen und deutschen Chören vermeidet das gesamte Werk bemerkenswert nationale Schwerpunkte. Seligpreisungen, die Strophen über Marias Leid und die keltische Frühlingsbitte zeigen eine paritätische, schon geschlechtsneutrale Reihung menschlicher Stimmungen von Trost, Hoffnung, Leid, Freude, Sehnsucht nach Ausgeglichenheit und Harmonie. Das Werk wirkt dadurch überkonfessionell, die patriarchale Dimension des Dogmas scheint hier sogar überwunden.

Frank-Steffen-Elster fand mit der Camerata Lipsiensis in der runden Akustik der Nikolaikirche zu einer gut ausbalancierten Auslegung. Die Orchestration ist gewiss denkbar mit größeren dynamischen, emotionalen und räumlichen Kontrasten. Bei der Uraufführung stehen die Rundungen im Vordergrund, die durch die Streicher vor allem in den Instrumentationszusammenführungen mit Röhrenglocken, Xylophon, Gong und Schlaginstrumenten entstehen. Das hat in der Melodiefindung und den klaren periodischen Strukturen des musikalischen Satzes eine kontrastierende, samtene bis strahlende Farbigkeit. Und genau das erzeugt sympathetische Neigungen für Mawbys Musik und seine Position als Komponist sakraler Musik der Gegenwart.

Den Chören hat der Komponist sehr dankbare und sehr sangliche Aufgaben in überwiegend diatonischen Sätzen zugeteilt, stellt dabei an die Hörer keine zu hohen Konzentrationsansprüche. Die oft in Arpeggi und Wellenfiguren vorschreitenden Streicherstimmen, die aufwändigen Percussions-Effekte verfehlen ihre Wirkung ebenso wenig wie das lyrisch getragen ausschwingende Sopran-Solo in den „Seligpreisungen“, das Kathleen Danke bewegend füllte. Die dem Bariton Solo übertragenen Vorwürfe Gottes (Tobias Ay in zurückhaltender Diktion) und die durch kontrastierende Ritornelle unterbrochenen Strophen des Neumark-Chorals durchziehen stellenweise melodische Fakturen aus britischen Volksmusiken.

Die dann wieder mit filigranen „Carmina burana“-Anklängen rhythmisierten Chorstimmen, aus ihnen klingt Laura Sell mit topsicherem und feinherbem Kindersopran, machen „Ecce homo“ gewiss zu einem wirkungsvollen Stück. Viele Pizzicati der Streicher, dann wieder noble Grundierungen und wiegenliedartige Wohligkeiten nehmen für die Werkarchitektur ein. Von meinem Platz ganz vorne halblinks wirkte die Orgel mehr als Orchester- denn als Führungsinstrument. War es die Partitur oder der interpretierende Gestus von Daniel Beilschmidt, der – angemessen dem Orchester – mehr den runden Mischklang als die große Expression des „Ecce homo“ suchte?

Mit dem Fortschreiten wandeln sich die verhaltenen Ansätze zu dramatischen Fokussierungen wenig. Eruptionen, innere Kämpfe, Gewissensentscheidungen und existentielle Dringlichkeiten spiegelt diese Musik kaum. Mit den Kontrasten der konfessionellen Unterschiede ist denn wohl auch die kathartische Wirkungsabsicht sakraler Musik verflüchtigt. Es dominiert die flächige Harmonie eines Wohlseins, aber nicht der Anstrengungen, die der Weg dahin enthält. Zelebriert wird ein inneres Vergnügen an einer harmonisch aufzustellenden Existenz  – wohl genau davon zeigten sich die Anwesenden befriedet und beglückt.

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