Mit dem Orchesterkonzert am 7. Juni 2018 begann für die Münchner BR-Konzertreihe musica viva eine Abfolge von Konzerten, die sich ausschließlich einem Komponisten widmen: In der Saison 2018/19 sind das etwa Peter Ruzicka und Beat Furrer. Abgesehen von Miroslav Srnka bleiben jüngere Namen außen vor. In dieser Spielzeit stand nun Helmut Lachenmann im Fokus.
Das Konzert begann mit dem Solopianisten Pierre-Laurent Aimard als Interpret der „Serynade“ aus den Jahren 1997/98. Im großen Herkulessaal musste der Flügel mit seinen exzessiv eingesetzten Resonanzklängen und Flageoletts elektronisch verstärkt werden, was man spätestens an einer sehr lauten Stelle hautnah erfuhr, als es eine deutlich hörbare Rückkopplung gab.
„Serynade“ als Anklang an Serenade und die Widmungsträgerin Yukiko Sugawara, die Pianistin der Uraufführung, wirkte eher wie die langsame Einleitung eines Präludiums einer französischen Suite. Die mächtigen, gut ausgehörten Cluster zu Beginn und die virtuosen linearen, fetzenartigen Einwürfe ließen zudem an eine klavierauszugartige Re-Komposition der orchestralen Erweiterungen der „Notations“ von Pierre Boulez denken. Resonanzen der stumm niedergedrückten Tasten, mit dem Pedal gehaltene ätherische Klänge und Flageoletts im Korpus des Klaviers verschmolzen gekonnt ineinander.
Das verlangte hohe Konzentration – nach einer halben Stunde wurde das Publikum etwas unruhig. Einer Basstremolostelle folgt dann ein Klang, als ob eine Oboe über Stuttgart erscheinen würde. Statt mutig aus dem Material herauszutreten, wird sie via Crescendodramaturgie höchst altbacken verdichtet. Es fehlt aber auch der Mut zu jener Unerbittlichkeit, wie sie der junge und mittelalte Lachenmann so wunderbar pflegte.
Es folgte der „Marche fatale“. Was soll man dazu sagen? Es ist ein Marsch in Es-Dur. Mancher dachte vielleicht an den „Marsch der Enthirnung“ von Bernd Alois Zimmermann. Doch bei allen Zitaten und Allusionen und sehrend geteilten Celli, kleinen und großen Übertreibungen sowie Momenten einer sich verspielenden Kapelle war und blieb es eines: ein Marsch in Es-Dur, kein sozialer und historischer Durchmarsch, kein Gaisburger Marsch. Die größte Frage hierbei blieb rein merkantiler Art: ob wegen des Marsches das gesamte Konzert nicht GEMA-technisch als U-Musik abgerechnet werden müsste …?
Nach der Pause erwartete man gespannt die Uraufführung mit dem wunderschönen Titel „My Melodies“ für acht Hörner und Orchester. Die zwei Hornistinnen und sechs Hornisten des BR-Symphonieorchesters nahmen vorne um den Dirigenten Peter Eötvös herum Platz. Unter seiner den ganzen Abend schon bemerkenswert präzisen und unprätentiösen Leitung ging es richtig süffig los, so dass man einen verdoppelten Erben von Robert Schumanns Konzertstück für vier Hörner vor Augen und Ohren wähnte.
Lachenmann amalgamiert in „My Melodies“ seine musique concrète instrumentale mit seinem Tonhöhen-Retro. Wie in seinem frühen „Notturno für kleines Orchester mit Violoncello-Solo“ (1966/68), wo er ein Zwölftonespressivo in durchlöcherte Geräuschexpression überführte, sucht er hier nach der Tonhöhendramatik des Beginns das Melos des tonlosen Atems. Wunderbar erlebte man dies, als die Trompetensektion die Grundresonanz ihres Instruments durch Blaslaute (mit ganz leisen, erkennbaren Tönen gemischt) und mit durch die Griffe gegebenen Luftsäulenveränderungen als Singendes hervorbrachten, ebenso die Solohörner sowie die Klarinetten. In Sologeige und Soloviola kehrt das Werk zu Tonhöhenblöcken zurück. Schließlich nimmt jeder sein Instrument vom Mund oder Hals und atmet mit Nase und Mund das Stück zu Ende, das mit einem Einatmen schließt.
Was diese mit Spannung erwartete und mit einem für Neue Musik ungewöhnlichen medialen Grundrauschen begleitete Uraufführung leider nicht wurde: eine großartige Auseinandersetzung mit seinem Titel: „Mein Melos“ wäre passender, denn weiträumige Klang- und Melodiebögen erlebte man nicht. Nach fünf Sekunden Ausatmen war meist Schluss mit dem Fortspinnen des Gesungenen.
Ob dies nun aus den Lufttrompeten oder dem Bratschenespressivo entwickelt wäre, ist nach der Traute zum selbst bereits wieder Tonalen im „Marche fatale“ Lachenmanns eigentlich fast egal. Nicht das Durchbrechen, nur das Zerbrechen scheint Lachenmann selbst nach der Aufgabe seiner Dogmen möglich. Somit ist „My Melodies“ eine Quersumme des eigenen Schaffens geworden, aber kein Blick in die Zukunft neuen Singens und Klingens. Zuletzt blieb auch die Frage unbeantwortet, ob die hervorragend aufspielenden Hörner nicht besser am angestammten Orchesterpult statt beim Dirigenten zu positionieren gewesen wären. Erzeugen zum Beispiel die Sechsteltonflügel von Georg Friedrich Haas’ „limited approximations“ formale und klangliche Konsequenzen, waren hier acht Hörner eben nur vier mehr als vier.
Einmal gab es einen unglaublichen, vollen achtstimmigen Akkord. Darüber hätten sich geräuschliche oder Tonhöhen produzierende Streicher tschaikowskyartig in Blühfreude bringen können. Doch das durfte nicht sein. So heißt es weiter warten auf Helmut, Annette, Georg, Matthias, Olga, Walter, Iris oder Wolfgang.