Berliner Erstaufführung von Stephen Olivers Oper „Mario und der Zauberer“ an der Staatsoper. Thomas Manns Novelle „Mario und der Zauberer“, Pflichtlektüre in den Schulen der DDR, Wahllektüre in der BRD, ist die dichterisch freier Wiedergabe eines Italien-Badeurlaub-Erlebnisses des Dichters im Jahre 1926, als der Faschismus schon heftig im Alltag herrschte und in Deutschland teils als Hoffnungsbild einer die Weimarer Republik ablösenden Staatsform ersehnt wurde, teil als drohend abschreckendes Realbeispiel erschien.
In einem kleinen italienischen Badeort löst ein 9-jähriges Mädchen, das ihren Badeanzug auszieht, um den sie störenden Sand auszuwaschen, die Beschwerde eines moralbesessenen Bürgers und eine Anklage beim Podesta aus. Die Mutter wird zu einer Geldstrafe verdonnert, während sich der Kellner Mario um die Kleine kümmert und Signora Angiolieri, die Pensions-Vermieterin, von ihren Zeiten als Garderobiere bei Eleonora Duse schwärmt. Eine abendliche Darbietung des Zauberers Cipolla führt alle Personen wieder zusammen. Cipolla verrät deren diverse Vorlieben und kleine Geheimnisse unter Einsatz von Hypnose lässt er die Anwesenden fragwürdige Darbietungen zum Besten geben –Zunge-Blecken, Baby-Manieren, und Zappel-Tänze der Betroffenen. Die Zauberkunststücke gipfeln in einer Darbietung, bei der Cipolla sich dem Mario als dessen weibliches Liebesobjekt präsentiert. Nach dem Kuss erwacht Mario aus der Hypnose, greift zur Waffe und erschießt den Zauberer.
Der 1950 in Chester geborene britische Opern-, Kantaten- und Musicalkomponist Stephen Oliver hat Manns Geschichte auf ein eigenes Libretto komponiert. Der Uraufführung, 1988 beim toskanischen Battignano Festival in italienischer Sprache, folgte ein Jahr später bei der US-Erstaufführung in Milwaukee die Originalversion.
Die in Übersetzung von Manfred Weiß erstmals 2004 in Stuttgart erklungene deutsche Fassung offenbart sich bei der späten Berliner Erstaufführung als eine handwerklich gekonnte, instrumental vielfältig aufgefächerte Kammeroper: eine Partitur voller synkopisch forcierter Unruhe, partiell flirrender Orchestrierung, mit eingestreuten Elementen á la Weill, Ragtime und Hupfwalzer, und gezielte Redundanzen zugunsten des dramatischen Aufbaus neuer Steigerungen.
In der Inszenierung und Ausstattung von Aniara Amos ist die Werkstatt in eine klassische Guckkastenbühne verwandelt. Die Einspielung von Badestrandgeräuschen und eine den ganzen Vorhang ausfüllende Video-Meerprojektion stimmen den Zuschauer ein auf Urlaubsfreuden, aber für Ent- und Verfremdung sorgen die in weißer Kleidung auftretenden, sich gezirkelt tänzerisch bewegenden Protagonisten: der prüde Signor Angiolieri (als indisponiert angekündigt, aber sich wacker schlagend: Matthias Siddhartha Otto), der permanent zündelnde Guiscardo (Martin Gehrke), der eitel-selbstverliebte Bürgermeister (Magnús Hallur Jónsson). Das die Handlung auslösende Auskleiden des jungen Mädchens (Paula Aschmann) wird als gesprochene Erzählung der Mutter (Lena Haselmann) nachgeschoben.
Zum Gesangserlebnis gestaltet Elsa Dreisig die Erinnerungen der Signora Angiolieri an ihr Idol Eleonora Duse. Der von Vinzenz Weissenburger einstudierte Jugendchor der Staatsoper unter den Linden füllt als transvestitenreich kostümierte Demimonde-Gesellschaft der Roaring Twenties bereits pantomimisch das Zwischenspiel vor dem Vorhang. Dann endlich präsentiert sich die Bühne in eindrucksvollem Ambiente: eine kleine, hochgebockte Varietébühne mit hohen Seitenwänden, darauf rosafarbene Publikumstische mit gemalten und partiell plastisch applizierten Gästen; durch ovale und runde Öffnungen strecken die jungen Choristen ihre Köpfe und teils auch Arme oder Beine.
Mit klassischer Zauberergestik gestaltet David Oštrek, differenziert in der Stimmgebung, wortreich den schwarzen Cipolla, durch dessen Magie sich die Gesichter des Publikums auf der Bühne in schaukelnde Schweineköpfe verwandeln.
Die bei Thomas Mann bereits anklingende Homoerotik der Schlussszene mit einem schmatzenden („schallenden“) Kuss zwischen Zauberer und Mario (Jakob Becker) wird hier breit ausgespielt und vervielfacht: denn nach den tödlichen Schüssen des Kellners auf den Zauberer spult die Zeit und Handlung zurück, und es kommt wiederholte Male erneut zur Liebesszene zwischen den Männern. Bei den Schussmomenten ergreifen auch Mutter und Guiscardo die Pistole und schießen um sich – so dass am Ende kein Lebender mehr übrig ist. So löst sich die Widmung der Partitur des Komponisten, der 1992 an AIDS starb, – auch in der Berliner Inszenierung optisch ein: „Unseren Toten, denen Zukunft erspart geblieben ist“.
Gestopfte Trompeten, Soli von Klarinette und kleiner Flöte sowie Passagen des Xylophons bleiben im Gedächtnis, wohl abgestimmt intoniert auf der Empore, rechts neben der Zuschauertribüne, von Mitgliedern der Staatskapelle Berlin unter der musikalischen Leitung von Felix Krieger. Und durchwegs textverständliches Singen ganz ohne Übertitelung.
Am Ende ungeteilter Beifall des Publikums zu dieser Premiere der „Jungen Staatsoper“, im Auditorium auch Kinder unterhalb der Altersgrenze der von der Theaterleitung angegeben Richtlinie, „für Menschen ab 15 Jahren “.
- Weitere Aufführungen: 13., 14., 16., 19., 20., 23., 24., 29., 30. April 2016