Hauptbild
Krazy Kat. Foto: Stefan Pieper
Krazy Kat. Foto: Stefan Pieper
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Parallelwelten erkunden beim Essener Festival „NOW!“

Publikationsdatum
Body

Engagiert bündelt das Festival „NOW!“ viele kreative Kräfte in Nordrhein-Westfalen. Die renommierte Folkwangschule leitet die Konzeption, dazu liefert die Essener Philharmonie zusammen mit einmaligen Industriekulturdenkmälern eine atmosphärisch dichte Infrastruktur. Erlebnisse, die unter die Haut gehen, künstlerische Produktionen voller Konsequenz und Wagemut waren am Eröffnungswochende des Festivals die logische Konsequenz. Das diesjährige Motto „Parallelwelten“ bietet hier sehr variable Gestaltungsmöglichkeiten.

Den ultimativen Trip für die Sinne gab es in der Essener Philharmonie gleich am Auftaktabend: George Herriman ist heute vor allem unter Comic-Enthusiasten bekannt. Die irrwitzigen Geschichten um eine durchgeknallte Katze und eine Maus, die viel einstecken muss, und zugleich auch grottenböse wie auch liebenswert ist, entfalten eine kunstvolle wie auch subversive Bildpoesie. Und wenn man bei den Zeichnungen an den stilisierenden Malstil etwa von Picassos Bild „Guernica“ denkt, muss man sich klar machen: Picasso schöpfte hier aus der Inspiration von Herriman – und nicht umgekehrt!

Was dies alles nun mit einem Festival für Neue Musik zu tun hat? Der britische Animations-Filmer Paul Barritt hat aus Herrimans Katzen-Comics eine rasend-schnelle, manchmal fast halluzinogene Filmanimation erstellt. Bildsequenzen explodieren und verästeln sich fantasievoll – mit dieser „Krazy Kat“ und der gebeutelten Maus im Mittelpunkt. Bitterböse, manchmal tragikomisch ist das alles kein Kinderspaß, sondern ganz viel schwarzer Humor. Und dass sich diese extreme Bilderflut so eindringlich ins Bewusstsein brannte, lag an der dazu live gespielten Musik.

Die Ausführenden der Musikfabrik NRW treten in Katzen-Kostümen an, aber was diese Instrumentalisten hier liefern, ist alles als origineller Gimmick. Ein älteres Werk von Harry Partch, sowie zwei neue Kompositionen von David Lang und Oscar Bettison wirken hier geradezu maßgeschneidert, fügen sich wie ein organisches Ganzes in diese Bildwelt ein. Sie treiben diese ganze Verrücktheit mit ebenso verspielter klingender Ideenflut voran. Harry Partchs „Eleven Intrusions“ kommentieren die aberwitzigen Bewegungssequenzen – und die Musikfabrik nutzt im Alfried-Krupp-Saal sämtliche exklusiven Instrumente aus dem Klangkosmos des Amerikaners, also diese speziellen volltönenden Riesenmarimbas und einige verschiedene Spezialharfen. Wuchtiger und motorischer wirkt David Langs aktuelles Werk „Hammerspace“ für Ensemble, minimalistischer wieder das Stück Animate Objekcts von Oscar Bettison.

„The amputation of Charlie Sharp“

Ein andere Essener Örtlichkeit führte in die Aura einer morbiden Post-Industriekultur. Im ehemaligen Salzlager der Kokerei Zollverein fand Stefan Hakenbergs uraufgeführte konzertante Oper „The amputation of Charlie Sharp“ ideale Voraussetzungen, um als beklemmendes Kammerspiel zu verstören. Mit dabei sind 40 Jugendliche, die ihr Gitarren- und Mandolinenspiel zum flirrenden orchestralen Motor des musikdramatischen Geschehens vereinten. Der Henze-Schüler Hakenberg entwickelt Tugenden seines großen Lehrmeisters weiter. Will sagen, dass die sehr textlastige Komposition ganz stark auf deklamatorischen Gestus angelegt ist. Das setzt ausgesprochen eindringliche Gesangssolisten in ein spektakuläres Licht – allen voran Stephanie Lesch als Krankenschwester und Marcelo Souza als Doktor. Zu Anfang stöhnen die kriegsverwundeten Hauptpersonen. An beklemmende Lazarett-Szenen von Remarque erinnert dieses Szenario – in dem der Protagonist Charlie Sharp aufwacht und gerade die Amputation seiner beiden Beine realisiert. Hakenbergs Oper nach dem Libretto von Philip Gourevitch zeigt ein klaustrophobisches soziales Miteinander in Abhängigkeit von schlimmen äußeren Umständen. Aber die Menschen leben weiter und lieben intensiv. Die unkonventionelle Besetzung dieses neuen Meisterwerks wird Henzes Anspruch gerecht, Musiker aus der Mitte der Gesellschaft – hier begabte jugendliche Laienmusiker – in den Dienst einer großen künstlerischen Sache zu stellen.

Traummechanik und Match

Musizieren als soziale Handlung thematisierte ein kammermusikalischer Abend im Alfried- Krupp-Saal – nicht ohne dabei Verhältnisse zwischen und Bewusstem und Unbewusstem auszuforschen. Allerdings erreichte dieser Abend nicht ganz die einprägsame Dichte, mit der man bei anderen Veranstaltungen an diesem Auftakt-Wochenende schon hinreichend verwöhnt worden war. Nicolaus Huber nahm sich hierbei etwa einer „Traummechanik“ an, wenn sich hier eine Pianistin und ein Schlagwerker in immer subtileren Nuancen schließlich der Stille, oder dem Unbewussten annäherten.

Musik als sportliche Herausforderung sieht das berühmte „Match“ von Mauricio Kagel vor. Hier kommt es auf die schauspielerische, fast clownesken Gaben der Protagonisten an. In dieser Hinsicht gab der Schlagzeuger Brian Archinal als „Schiedsrichter“ alles, wenn dieser mit viel absurden Einlagen, gebieterischen Gesten, Trommelschlägen und Trillerpfeifen-Stößen den Wettstreit von Marie Schmid und Eva Boes an ihren Violoncelli koordinierte. Letzteren beiden hätte man noch mehr Mut zu mehr gestischem Spielwitz gewünscht – denn ein spannender Wettkampf lebt von ebensolchen Wettkampfteilnehmern!

Sehr facettenreich geht es in Essen noch bis zum 15. November weiter. Janine Jansen spielt am 8. November ein neues Werk von Michel van der Aa. Die Deutsche Gesellschaft für Elektroakustische Musik lotet am 14. November elektronische Parallelwelten aus. Zu einem Marimba-Special lädt das Ensemble Perkussion NRW unter Leitung von Stephan Froleyks und Ralf Holtschneider und es stehen in Essen weitere Uraufführungen auf dem Programm, nämlich neue Werke von Orm Finnendahl und Oliver Schneller durch die Essener Philharmoniker.

Komplettes Programm unter: http://www.philharmonie-essen.de/themen-reihen/now-parallelwelten.htm

 

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!