Premiere Eins der Musikalischen Komödie in der Alternativspielstätte Westbad mit nur 200 Metern Entfernung zum Stammort. Das Haus Dreilinden in Leipzig-Lindenau wird aufwändig renoviert. Man hat viel vor: Licht- und Tonanlage kommen endlich auf den optimalen Stand. Ein neuer fahrbarer Orchestergraben minimiert Umbauzeiten und die neue Bestuhlung auf in Stufen ansteigenden Reihen von der früheren Parkettebene zum Rang ermöglicht optimale Sicht. Die Platzkapazität wird von 522 auf 640 erhöht. Für diese Maßnahmen sind 7,6 Mio. Euro aus Mitteln im Rahmen des Förderprogramms Stadtumbau Ost – Aufwertungsgebiet Leipzig West und einem Eigenanteil der Oper Leipzig vorgesehen. Auf Zugstücke muss das Publikum im Westbad nicht verzichten, bis das Ensemble, wenn alles nach Plan läuft, im November 2020 mit einer festlichen Eröffnung das Stammhaus wieder in Besitz nehmen wird. Roland H. Dippel über die Spielzeit-Eröffnung in der Harmonie-Blech zu Schlager-Gold geschmolzen wurde.
Nach der Spielzeit-Eröffnungsgala und der Übernahme der ursprünglich für die Guckkastenbühne im Stammhaus bestimmten „Fledermaus“ auf das Variété-Podium im Westbad die tatsächliche Premiere Number One: „Spiel mir eine alte Melodie“. „Vorhang auf!“ kann man nicht sagen, denn es gibt keinen. Aber das ist nicht von Schaden, denn jetzt fühlt man sich mehr in touch mit dem künstlerischen Personal. Die Abteilungen des Hauses, vor allem Ton und Technik, machen einen tollen Job im Ausnahmezustand einer Location, der kaum ‚echte‘ Theatergegebenheiten erfüllt.
Man liegt voll im Trend: „Spiel mir eine alte Melodie“, erdacht von Chefregisseur Cusch Jung, steht nicht nur topographisch und chronologisch auf halber Strecke zwischen Jan Neumanns Revue „Hier und Jetzt und Himmelblau“ an der Staatsoperette Dresden und „Hossa! Die Hitparade 2“ am Theater Hof. Dazu sind die üppigen wie soundmächtigen, eigens für diese Schlager-Revue in Auftrag gegebenen Arrangements, unbestechlich geschmackssicher. Zu Recht erinnerte sich Roland Seiffarth, Musikdirektor der MuKo i. R., während der Pause daran, dass man schon lange vor 1989 aus der Not des Firlefanz‘ von miesen Handlungen und Tantieme-Engpässen bunte Revueabende zur Tugend machte. Nichts Neues also unter der Sonne und gerade deshalb etwas Erstaunen darüber, dass die Musikalische Komödie bei der städtischen Markenpräsentation „Musikstadt Leipzig“ vor einigen Tagen kaum eine Rolle spielte. Denn Barockfestivals de luxe wie das Bachfest, Ausnahmeorchester und leistungsstarke Opernhäuser haben mehrere Kulturstädte im Angebot, aber in Deutschland gibt es nur noch zwei Repertoire-Theater mit Spezialisten-Ensemble für Operette und Musical. Da müsste die Dachfläche der Musikstadt Leipzig also noch etwas erweitert werden ...
Zumal sich das Warten der schon früh angerückten Stammgäste, Premierenflaneure und Retro-Fans im mattgrauen Treppenflur der Eventlocation Westbad echt gelohnt hat. Vor allem der immer stärker als Bühnenbildner geforderte technische Direktor Frank Schmutzler investierte viel Geist und Knowhow in die variable Saalfläche mit Sitzreihen und einer beträchtlichen Anzahl von Tischen zum Schmausen, Flirten, Staunen. Ein Mittelsteg schafft in „Spiel mir eine alte Melodie“ die konzentrierende Sichtachse unter der mit bunten Fischchen bemalten Saaldecke, die an die frühere Funktion des mächtigen Backsteinbaus erinnern. Das Orchester der Musikalischen Komödie sitzt hinter bordeauxroten Wimpeln mit prächtigen Lettern. Recht so.
Denn die Musiker schmelzen unter Kapellmeister Tobias Engeli Harmonie-Blech zu echtem Schlager-Gold. Man kann es Cusch Jung nicht vorwerfen, dass auch er es mit der Begrenzung auf das, was in der Fachliteratur als Schlager definiert wird, vor der Pause nicht allzu genau nimmt. Denn sonst gäbe es weder die Intro „Spiel mir eine alte Melodie“ noch später „Ganz Paris träumt von der Liebe“ aus „Cancan“, weil Cole Porter den offeneren Begriff „Song“ favorisierte. „Hit“ bedeutet eh nur unzureichend das, was „Schlager“ meint. Doch wenn frau „Wenn ein junger Mann kommt“ mit so viel vokalem Wimpernklimpern singt wie Angela Mehling, erlahmt der Pausentalk, wann ein Lied ein Schlager ist oder zum Schlager wird. Nie hätte Robert Stolz sein „Sag zum Abschied leise Servus“ als Schlager bezeichnet. Aber darum geht es nicht im Westbad, denn das Ensemble brauchte Musikfutter und präsentiert dieses in glänzender Verfassung: Witz, feiner Humor, dezente bis zaghafte Andeutungen von genderkorrekter Vielfalt und das von Mirko Mahr mit Mini-Spielereien und flotten Tutti-Szenen zu leichter Eleganz inspirierte Ballett machen Laune, gehen beglückend ins Auge und ins Ohr. Diese Revue schielt erfolgreich nach Nischengenres wie der Opérette-légère und Wirtschaftswunder-Komödien, in denen Lilo Pulver im Blümchen-Kleid ihrem italienischen Abenteuer hinterher schluchzt und dieses dann richtig losgeht.
Die Balance sitzt
An Jennifer Knothes Kostümen fehlt tatsächlich nichts – außer Sonnenbrillen. Das ist eine Auszeichnung. Denn es gibt viel Typisches von Knickerbockern bis zu elegant-blässlichen Anzügen für im Umgang mit dem schöneren Geschlecht zaghafte Herren, dazu Damen-Coutures von elegant bis frech und Strohhüte, die neugierig auf die Gesichter darunter machen. Der Abend kokettiert mit Klischees, strandet aber nie in den Niederungen von Klischee-Missbrauch. Die reiferen Ensemble-Mitglieder sind verjüngt, die Jungen ohne Naivität. Diese Balance sitzt und das gilt auch für die Arrangements. Es sind keine müden Stardoubles von Mario Lanza oder Marika Rökk, die sich auf der Bühne tummeln, die Lustvolles immer mit Geschmack fokussierende Nora Lentner und der zwischen schüchtern und lüstern unentschlossene Michael Raschle. Charmant, elegant, nonchalant sind auch alle anderen: Die kurzfristig für Lilli Wünscher eingesprungene Mirjam Neururer, Jeffery Krueger, Hinrich Horn (mit einem derart fetzigem Trompetensolo, dass das Blech wegfliegt), Anne-Kathrin Fischer, Andreas Rainer, Justus Seeger, Milko Milev. Vereinzelt schleichen sich Spielmuster ein, die vertraute Besucher aus dem laufenden Repertoire kennen. Aber es ist doch immer wieder lehrreich, wie einige Damenkontakte nie darüber hinaus gedeihen, dass Mann die Zeche zahlt.
Ausbruch-Chance im Westbad
Das ganze Ensemble nutzt die Ausbruch-Chance ins Westbad mit allen Herzfasern. Denn weil dort einiges anders ist, entdecken sich die Spieler neu wie Ehemänner, denen nach einigen Jahren erstmals wieder die schönen Augen ihre Lebensabschnittsgefährtinnen auffallen. Neben federleichten Vis-à-vis-Momenten mit dem Ballett wirken auch die Sänger im offenen Raum des Westbads leichter als noch jüngst auf der Bühne im Haus Dreilinden. „Spiel mir eine alte Melodie“ wird von Cusch Jung also genutzt zum Putzen. Abgestaubt wird, was sich bei vielen „My Fair Ladies“ und „Madame Pompadours“ an Standard-Pointen und schablonisiertem Liebesgeflüster in den Handwerkskästen des Ensembles angesammelt hat. Der Verzicht auf Requisiten wie Fächer für W, Kavalier-Stöcke für M und Spitzentücher für D bedauert im Publikum niemand. Erst recht nicht, wenn es von Paris nach Italien geht und die vom Herrenquintett geröhrte Wunschvision „Ich brech‘ die Herzen der stolzesten Frau‘n“ auf einmal reale Chancen hat. Beste Chancen bei neuen Besuchergruppen dürfte „Spiel mir eine alte Melodie“ auch deshalb haben, weil diese Revue über Dumpfheiten der Silbermattscheiben-Epoche hinauswächst, keinen moralischen Zeigefinger aus Perspektive heutigen Gender-Mainstreams hochreißt und das Ensemble gründlich durchschüttelt. Eine Gesamtleistung zum Küssen.
- Schlager-Revue „Spiel mir eine alte Melodie“ Musik von Irving Berlin, Mischa Spoliansky, Peter Kreuder, Robert Stolz u. a. zusammengestellt von Cusch Jung – Musikalische Leitung: Tobias Engeli – Idee und Konzeption: Cusch Jung – Choreografie: Mirko Mahr – Bühne: Frank Schmutzler – Kostüme: Jennifer Knothe – Dramaturgie: Christian Geltinger – mit Lilli Wünscher | Anne-Kathrin Fischer | Nora Lentner | Angela Mehling | Jeffery Krueger | Hinrich Horn, Milko Milev | Andreas Rainer | Michael Raschle, Justus Seeger – Ballett der Musikalischen Komödie – Orchester der Musikalischen Komödie
- Besuchte Vorstellung: 27. September 2019, 19:30 Musikalische Komödie im Westbad – Weitere Aufführungen: 28. & 29. September / 03., 04. & 05. Oktober / 30. November / 01., 28. & 29. Dezember 2019 / 18. & 19. April / 11. & 12. Juli 2020 – www.oper-leipzig.de – Ticket-Hotline: + 49 (0)341 – 12 61 261