Angesichts der Tatsache, dass die Absage von Jonathan Meeses in Bayreuth geplanter Inszenierung des „Parsifal“ mit deren finanziellem Aufwand begründet wurde, erscheint die Tatsache, dass dieses Projekt jetzt für je drei Aufführungen in Wien und Berlin – u. a. unterstützt vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, den Wiener Festwochen im Verbund mit den Berliner Festspielen, den Medienpartnern ARTE, Berlinartlink, Monopol, Tagesspiegel, Wall und der York Kinogruppe, sowie eine Reihe weiterer potenter Sponsoren – ohne finanzielle Abstriche finanziert werden konnte, gleichermaßen erstaunlich wie verwunderlich.
Aus-Stellung als Antwort auf die Aus-Ladung und Ein-Führung
Der Besucher der „Parsifal“-Neudeutung wird zunächst konfrontiert mit einer wüst geballten Ansammlung all dessen, was zwischen Plastik-, Kitsch-, Jugend-, Fetisch-, Kommerz- und bunten Abfallartikeln nur irgend aufzutreiben ist, grell übermalt mit Wortungetümen und angehängte Z-Endungen, der Manifestation dessen, was alles für Jonathan Meese Kunst und was die Kunst alles ist, wobei die Verneinung von allem was für ihn nicht Kunst ist, deutlicher zu Buche schlägt. Bereits auf dem Eingang zum Haus der Berliner Festspiele ist eine solche grelle Schaubuden-Installation platziert, die mehr Fragen aufgibt als Aussagen anbietet. Buden dann auch in den Foyers beider Stockwerke des Hauses. Die Ausstellung setzt sich fort bis in den Keller, mit bemalten und geklebten Fernsehapparaten, im Kreis unter der Drehbühne aufgestellt, darüber Negationen auf Spruchtafeln. Auch Nischen und die Fenster nach draußen sind zu Schaufenstern für dekonstruktiv ausgestellte Sex-Puppen und Aliens umgestaltet.
Das ergibt – auch im Theater – kein Gesamtkunstwerk, bleibt festgeklebter Abfall als App-Falle der Kunst, wie eine Kundry, die bereits als kopfloser Embryo von einem Tiger verschluckt, von der Seite malocht.
Im Rang-Foyer erklärt ein Mitarbeiter des Gesamtkunstwerkers dem Publikum, wie es zur Absage von Meeses bereits angekündigter Neuinszenierung des „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen 2016 gekommen sei: der erste Entwurf des Künstlers sei von der Festspielleitung als zu teuer befunden worden, und Meeses Angebot, das erforderliche Geld selbst aufzutreiben oder persönlich zu bezahlen, sei ebenso abgelehnt worden wie ein zweiter, im Aufwand reduzierter Entwurf. Und von seiner Kündigung habe Meese zunächst durch einen Anruf des Nordbayerischen Kurier erfahren. Seine Wut über die Ausladung manifestiert sich in der Ausstellung in einer Reihe von Verhöhnungen Bayreuths als Fischbude und in seinen Wortspielen über Wahnfried und „Daddy“ Wagner. Alles das, was über ihn und sein Wagner-Projekt veröffentlicht wurde, hat Meese als Collage auf die Außenwand einer seiner Schaubuden gepflastert.
Die neue Partitur
Während Regisseuren in Bayreuth Eingriffe in Musik und Text vertragsgemäß untersagt sind (wie Frank Castorf dies als Bestandteil des ihm offerierten Vertrages verlautbart hatte), hat Jonathan Meese nunmehr freie Hand im Umgang mit dem Primärschema des Kunstwerks, mit Wagners Partitur in Wort und Ton. Der österreichsche Komponist Bernhard Lang (Jahrgang 1957) war bereit, die von Meese an ihn herangetragenen Änderungswünsche in einer neuen Partitur kompositorisch umzusetzen. „Die Überschreibung für Stimmen, Chor und Orchester“ orientiert sich einerseits an Wagners Abfolge und Klang, hilft durch ihre „Übermalung“ andererseits, die Größe des Orchesters zu reduzieren.
Die Umsetzung dieser Absicht ist Lang erstaunlich gut gelungen, indem er die Violinen solistisch sechsfach unterteilt und auch die Parts der beiden Bratschen und Violoncelli differenzierend gestaltet und dem einen Kontrabass einen verstärkten Kontrabass in der hinzutretenden Jazz-Combo auf der einen Seite des Orchestergrabens und drei Keyboard-Spieler an Synthesizern auf der anderen Seite hinzufügt. Die Harmonieinstrumente sind solistisch mit Holz, inklusive Kontrafagott, Trompete, Posaune und Tuba, sowie zwei Hörnern und Saxophonen besetzt. So finden die Instrumentalisten des an neuer Musik geschulten Klangforum Wien in und neben dem kleinen Orchestergraben der ehemaligen Berliner Volksbühne Platz, eine große Schlagzeug-Batterie ist auf der Seitenbühne postiert.
Richard Wagners Libretto wurde von Bernhard Lang für „Mondparsifal“ eingestrichen. Insbesondere all jene Textpassagen, die in Wagners Original christlich oder buddhistisch konnotiert sind, wurden in der bei Ricordi erschienenen Partitur eliminiert. Andere Texte, auf die schwer verzichtet werden konnte, wurden durch Übersetzungen in die englische oder französische Sprache verfremdet. Manche Texte wurden in ihrer sprachlichen Syntax vereinfacht, bisweilen auch bewusst verballhornt.
Wagner hatte den Gesang der Blumenmädchen selbst „amerikanisch sein wollend“ (so in seiner Kompositionsskizze) angelegt, und Lang beweist nun die Nähe zum Jazz im Vorspiel zum zweiten Aufzug und im Monolog des Klingsor. Die solistischen und chorischen Stimmen der Blumenmädchen lässt er hingegen in französischer Sprache ertönen.
Es erscheint erstaunlich, wie der Komponist auf solche Art und Weise den „Karfreitagszauber“, den er sowohl als Bezeichnung wie auch im textlichen Disput von Parsifal und Gurnemanz negiert, umschifft, aber dann doch dessen Themen kompositorisch einfließen und steinbruchartig einzelne Worte singen lässt, bzw. an den in dieser Szene bereits sichtbar anwesenden Chor oder an Kundry überträgt, die im Gegensatz zu Wagners Vorlage über ihre zwei Worte „dienen“ hinaus im dritten Aufzug wiederholt gesanglich zum Einsatz kommt.
Am Ende hat der Komponist merklich Probleme mit der Apotheose, verändert den Text „Erlösung dem Erlöser!“ zu „Erlösung von Erlösern!“ und fügt nochmals das in seiner Partitur am Ende des zweiten Aufzugs als Duett [!] von Kundry und Parsifal ausgeführte „Du weißt, wo du mich finden [sic!] kannst“ an.
Während in Wagners „Parsifal“-Partitur bei der Aufregung über den verwundeten Schwan der frühe „Lohengrin“ anklingt, zitiert Lang, mit dickerem Pinselstrich, gleich „Mein lieber Schwan“ in Wort und Ton.
Den Doppelchor der Gralsritter im dritten Aufzug setzt er um als Zwiegespräch zwischen Herrenchor sowie Parsifal und Gurnemanz im Duett. Trotz der Verkürzungen erlangt die Gesamtaufführungsdauer der neuen Oper beinahe die Länge von Wagners Original und überbietet diese im zweiten Aufzug sogar.
Denn Lang baut immer wieder Loops ein. Diese wirken häufig wie eine unfreiwillige Persiflage auf die Minimal Music oder so, als würde die Nadel auf der Vinylplatte eines alten Schallplattenspielers immer wieder zurückspringen, da sie ein Staub-Hindernis erst nach dem fünften oder sechsten Anlauf bewältigt oder einen Kratzer nur durch manuellen Nachdruck. Bei den Sänger_innen wirkt das Ringen um Worte so, als würden sie musikalisch stottern.
Die (Neu-)Inszenierung
In Gegensatz zur Wiener Uraufführung erfuhr die Berliner Erstaufführung des „Mondparsifal“ als „Beta 9–23“einen veränderten Neuaufguss. Die aufwändige Raumgestaltung der Foyers setzt sich auf der Bühne fort, mit einem Styropor- und Klopapierberg sowie einem überdimensionierten Kühlschrank.
Die Maske des Gralslehrers Gurnemanz (Wolfgang Bankl), hier ein Sumo-Ringer mit Bondage, ist als Mischung der Künstler Ai Weiwei und A. R. Penck zu deuten, die Meese damit zu jenen Idolen erklärt, an denen er sich misst. Parsifal, im roten Slip mit Pistolenhalfter, erscheint als infantilisierte Darstellung des durch seine homoerotischen Illustrationen bekannt gewordenen finnischen Künstlers Tom of Finnland.
In seinen Mixed Media Spaces häuft Meese die Idole seiner Kindheit und Jugend, von Spock, dessen Ohren sich bei den Gralsknappen fortgepflanzt zu haben scheinen und der Ritterschaft als hospitalisierten Vulkaniern, die – wie Yeti – im Kühlschrank tote Tiere aufbewahren. Neben E.T., Moby Dick, Barry Lyndon, Edgar Wallace, Charles Bronson und Doktor No aus James Bond begegnet der Zuschauer (so er dies nachzuvollziehen bereit ist), in der in der Zukunft auf dem Mond spielenden Handlung auch Fancy, Marlon Brando, Zardoz, dem Wicker Man und Barbarella sowie einem elektrisierten Eagle Transporter.
„Peterchens Mondfahrt“ wird zu „Parsifals Mondfahrt“, wie auf dessen Fahne zu lesen ist. Und Kundry tritt zunächst im Outfit Richard Wagners auf, der demnach durchaus auch zu den von Meese verehrten Vorbildern zählt.
Die gesungenen Texte werden zum Mitlesen auf die Seitenwände des Theaters projiziert. Und einer Praxis, die erstmals Peter Sellars in seinem „Tannhäuser“ in Chicago angewandt hatte, folgend, sind unter diesen Texten in roter Schrift Subtexte zu lesen – hier jeweils Meeses Assoziationen, mit viel meesianisch-messianischem Selbstbezug.
Im zweiten Aufzug erlebt der Zuschauer Klingsor zunächst als einen schwulen Tod, der mit der Sensenspitze in seiner Nase bohrt. Nachdem sich Klingsor bis auf die Unterwäsche ausgezogen und seine Perückenmähne abgelegt hat, erweist er sich als glatzköpfiger alter Hans Wurst, der mit einem großen Plüsch-Teddybären spielt, diesen erhenkt und wiederbelebt und der in seinem Folklore-Iglu nach ausgiebigem Stuhlgang das rosarote Klopapier bis zum Bühnenboden ausrollt um und sich dann damit den Kopf komplett einzubinden. Zwar hatte er Kundry den Auftrag erteilt „Versuch’ [sic!] den Knaben!“, doch zeigt er dann kein weiteres Interesse daran. Da er von Kundry nicht zu Hilfe gerufen wird und somit auch nicht gegen Parsifal den Speer schleudern kann, lässt Meese ihn kurzerhand mit dem als fette goldene S-Rune geformten Speer zu Parsifal ins Kanu steigen, damit der diesen den Gralsrittern im dritten Aufzug übergeben kann.
Als sein eigener, in Bewegungsabläufen durchaus geschickter Regisseur misstraut Meese nach der zweiten Pause offenbar der Schlagkraft seiner Personenführung, denn er bricht die Handlung durch Sequenzen aus Fritz Langs Filmen „Die Nibelungen“. Diese werden auf die gesamte Bühne projiziert: die finale Schlacht zwischen Hagen von Tronje und Kriemhilds zweitem Mann, dem Hunnenkönig Etzel, ergänzt die mühsam, unter Einsatz eines vergrößerten Wagner-Fotos und zweier Gliederpuppen, zu Ende geführte „Parsifal“-Handlung. Eine dieser Gliederpuppen, als Wagner kostümiert, muss den Weg zum Gral während der Verwandlungsmusik antreten, eine andere, übergroße, ist als gigantisches Götter-Standbild (der Kunst?) im Gralstempel zentral errichtet. Der für die Kostüme verantwortlich zeichnende Jorge Jara hat die Hose des Gurnemanz zu allem Überfluss mit der Aufschrift „Hagen von Tronje“ versehen.
Parsifal, nunmehr in goldener Ritterrüstung und mit Agamemnons-Maske, führt ein goldenes, unbeschriftetes Banner mit sich, und – mangels Fußwaschung und Salbung Parsifals – überschüttet sich Parsifals Begleiter Klingsor selber mit Creme.
Vermutlich in Anlehnung an Hitchcocks legendäre Kurzauftritte in dessen Filmen, lässt Meese es sich nicht nehmen, im Schlussakt zweimal die Bühne zu überqueren.
Trotz eines finalen Prospekts mit der Aufschrift „Kunst / ∞ / Ruf mich an…!“ wird dem Publikum die am Ende versickernde Musikdarbietung nicht als Schluss deutlich, so dass Klingsor Martin Winkler, der das als Humpty Dumpty omnipräsente Bild von Meeses Mutter mit einem Tuch zudeckt, dem Publikum auf Wienerisch zuruft: „Es ist aus!“
Schwer rezeptierbar
Ohne die exakte, parallel im Kopf des Rezipienten auswendig permanent mitlaufende Partitur Wagners inklusive deren originalen Texten einerseits sowie den Subkultur-Mythologemen der egozentrischen Meese-Kunst andererseits, ist der Besucher dieses Musiktheaters heillos überfordert, verloren. Und so verloren sich bei der Derniere im Haus der Berliner Festspiele zusehends die Besucher, bereits nach dem ersten, dann im und nach dem zweiten Aufzug.
Dabei war die musikalische Umsetzung von Bernhard Langs neuer Partitur gelungen: Die künstlerische Realisierung durch die Instrumentalisten des Klangforum Wien ist exquisit, der Arnold Schönberg Chor in Spiel und vokaler Umsetzung präzise und genussvoll, die Solisten überzeugen mit ihren gesanglichen und darstellerischen Leistungen rundum. Allen voran der zwischen Counter- und jugendlichem Heldentenor die Stile wechselnde, über die Bühne sprintende Daniel Gloger und der seine Wunde als kreisende Dauerspirale zur Schau tragende Tómas Tómasson als Amfortas. In Meeses beigelieferten Text-Erklärungen zieht Kundry dem „Muttersöhnchen“ Parsifal gegenüber das „ES [von] Freud“ heran, was Magdalena Anna Hofmann in ihrer gesanglich vielschichtigen, szenisch zwischen weiblichem Wagner, Mata Hari und Nibelungen–Kriemhild changierenden Verkörperung durchaus deutlich macht.
Simone Young, die ehemalige Generalmusikdirektorin Hamburgs, gleichermaßen „Ring“- und „Parsifal“-erfahren, dirigiert präzise und mit Verve, als gelte es den gesamten Wagner an einem Abend und nebenbei obendrein noch Philip Glass vermittelnd den Garaus zu machen.
Die Frage, wie diese Inszenierung (mit Wagners originaler Musik) in Bayreuth anstelle jener von Uwe Erik Laufenberg aufgenommen worden wäre, lässt sich angesichts der Koproduktion von Wien und Berlin annähernd beantworten: zunächst sicherlich ohne jene politische Überreaktion, die in Befürchtung terroristischer Anschläge aufgrund der deutlichen Islam-Bezüge in Laufenbergs Regiearbeit zu konstatieren ist. Ebenso sicher hätte Meese in Bayreuth mehr Widerspruch ausgelöst, insbesondere bei ausländischen Besuchern, soweit sie nicht aufgrund ihrer Wertung der Inszenierungen von Schlingensief und Castorf als „German Trash“ den Bayreuther Festspielen inzwischen ohnehin fernbleiben. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob ein solcher Inszenierungsstil, wie Jonathan Meese ihn für „(Mond-)Parsifal“ zeigt, sich fünf Jahre lang für die allsommerliche Wiederkehr bei den Festspielen hätte ausverkaufen lassen.
Denn an Meeses Absicht, „Von einem, der auszog, den ‚Wagnerianern des Grauens’ das ‚geilstgruseln’ zu erzlehren“, hätte sich vermutlich nichts verändert.
Die bis zum Ende der Aufführung verbliebenen Besucher, darunter Ex-Festspielleiterin Eva Wagner-Pasquier, applaudierten heftig und ohne Widerspruch.
Von Meeses Definitionen, Wortneuschöpfungen, Kunsterklärungen und (Un-)Gleichungen bleibt primär ein Anagramm im Gedächtnis: „K.U.N.S.T = S.T.U.N.K“.