‚Kennst du nicht?’ ‚Keine Ahnung, bin nicht so firm in der Szene.’ ‚Aber das ist doch die, die mit dem Wolf tanzt!’ – Kleiner Besucherdialog neulich in der Essener Philharmonie. Ein Zufallsfund im großen Gewusele des National-Bank gesponserten Hélène Grimaud-Konzerts mit Verleihung des Preises Klavier-Festival Ruhr an Hélène Grimaud.
Volles Haus. Darunter vermutlich nicht wenige, die einfach neugierig waren. Eine Pianistin, die als engagierte Naturschützerin von sich reden macht, indem sie im amerikanischen Bundesstaat New York ein Wolf Conservation Center betreibt wie sie überhaupt mit Meister Isegrim auf Schmusekurs ist, darüber Bücher veröffentlicht und auch via Film Auskunft gibt. Und nebenbei an die einhundert Konzerte im Jahr. Wie passt das alles zusammen? ‚Muss man sich mal vorstellen. Rein ins Gehege, die Lieben begrüßen und dann auch noch anfangen, Partituren zu studieren.’ ‚Und die Wölfe?’ ‚Machen ihr den Hof.’
So ähnlich die Situation als Wolfsfreundin Hélène Grimaud das Großgehege der Essener Philharmonie betritt. Ein Setting wie im richtigen Theater. Abgedunkelter Raum, Steinway im Lichtkegel. Gehüllt in etwas schwarz und weiß Fließendes huscht die Pianistin zu ihrem Instrument, versammelt sich – und verharrt für eine kleine Ewigkeit mit ausgebreiteten Armen über der Klaviatur. Eine Geste, die sich wiederholt sobald Luciano Berios 1965 entstandenes neoromantisierendes „Wasserklavier“ versickert ist. Wieder die ausgebreiteten Arme, schwebend über schwarz und weiß. Eine Geste wie beim Friedensgebet, mit etwas Beschwörendem darin. In jedem Fall aber: Nicht stören! Botschaft: Klavierabend ist nicht nur dann, wenn ein Stück nach dem andern gespielt wird. Klavierabend ist auch dann, wenn aus vielen Stücken eines wird. Man muss sie nur – gewusst, wie: Interpretation als Kreation höherer Ordnung – auf die Kette ziehen. Was nicht unbedingt eine neue Idee ist, aber im schnurrenden Mahlwerk eines Klavierfestivals doch ein Novum.
Neun Mal sei sie nun schon dabei gewesen, rechnete Intendant Franz Xaver Ohnesorg hinterher bei der Preisrede vor. Jetzt, beim zehnten Mal, hat die Vielumworbene dem Klavierfestival einen Wink gegeben. Statt des Prinzips same procedure as every year vielleicht doch einmal eine Variante? In diese Richtung jedenfalls musste man die eigenwillige erste Hälfte ihres Konzerts verstehen. Auf dem Zettel acht Namen, acht Werke. Locker ums Thema Wasser kreisende Vorgaben der Herren Berio–Takemitsu–Fauré–Ravel–Albéniz–Liszt–Janácek–Debussy wurden von Grimaud in einem kühnen 60-Minuten-Bogen zu einer einzigen „Wassermusik“ verwebt. Je länger diese dahinmäanderte, desto schwerer ward’s, das eine vom anderen zu unterscheiden. Ja, man hatte sogar den Eindruck, wo noch Ecken und Kanten herausragten, wurden sie von der bekennenden Romantikerin am Instrument mit Hilfe des rechten Pedals und einem Dauerrubato abgeschliffen. Sobald dann die letzten, doch eher laut als kräftig herausgeschlagenen Akkorde von Debussys „La cathedrale éngloutie“ verklungen waren, wollte der Jubel kein Ende mehr nehmen.
Erstaunlich eigentlich, wenn man bedenkt, dass dieser Klavierabend aus dem Geiste der Konzeptkunst mit den sonst ja auch ziemlich rückhaltlos begrüßten Gepflogenheiten nicht mehr viel zu tun hatte. Was dabei die Grimaud betrifft, so hat sie sich allerdings immer schon gewisse Freiheiten genommen. Man denke nur an ihre Schumann/Brahms-Platte, die ja sogar vor Besetzungsgrenzen nicht halt macht: Interpretation überwölbt von Intuition.
Letzteres ist der Lieblingsbegriff der Künstlerin. Kein Wunder, dass sie ihn auch für ihr Essener Reformprogramm fruchtbar macht. Entlehnt hat sie ihn (ein Einleger hat uns dankenswerterweise ins Bild gesetzt) der deutschen romantischen Naturphilosophie. „Alle Bereiche unserer Existenz wurzeln in einer allumfassenden Intuition.“ Und: „Nach dieser universalistischen Philosophie, die mir selbst so sehr am Herzen liegt und die in diesem Fall besonders wichtig ist, kann die Natur als ultimative Muse, als unerschöpfliche Quelle der Inspiration, als Brücke zur spirituellen Welt verstanden werden.“ Darwin war gestern. Als „Muse“ ist Natur eigentlich ein anderes Wort für Kunst – man muss es respektive sie nur recht verstehen. Dann versteht man auch, dass ein Partiturstudium unter Wölfen die Beglaubigung dafür ist; wie umgekehrt die Verwandlung von eigenständigen Werken der Klavierliteratur dank „Intuition“ in ein einziges.
Nicht, dass wir falsch verstanden werden: Experimentelle Abende wie das Essener Preisträgerkonzert der Hélène Grimaud sind im Rahmen eines Klavierfestivals allein schon deswegen zu begrüßen, weil es ja nicht nur um die Erneuerung des Repertoires geht (wozu Grimaud nur minimale Impulse gesetzt hat), sondern auch um Gestalt und Gestaltung. Bewährte Festival-Mitstreiter wie Pierre-Laurent Aimard haben da ja schon in der Vergangenheit gezeigt, wohin die Reise der Institution klassischer Klavierabend gehen könnte. (s. nmz online 11.06.2014) Insofern war das Grimaud-Konzert eigentlich nur ein weiterer Baustein dazu. Nicht die vorgeschlagene Lösung, der Fingerzeig aufs Problem war hier der Dienst.
Immerhin: So ganz anders die intuitive erste Hälfte dieses Abends gewesen ist, gemessen jedenfalls an der gewöhnlichen Praxis, nach der schwarz gewandete Herren und Damen ganze Herden von Schlachtrössern in Grund und Boden reiten – so sehr zeigte Hélène Grimaud in der zweiten Hälfte, dass sie durchaus auch Schlachtross kann. Hatte sie sich zu Beginn noch genähert wie ein scheues Reh, so stürmte sie zu Brahms fis-moll-Sonate nun wie der leibhaftige Lupus und zeigte ihre Krallen.