Seit geraumer Zeit gilt Pascal Dusapin als Repräsentant der kunstfertigen neuen Musik in Frankreich und nimmt im dortigen Musikleben in etwa die Funktion ein, die Wolfgang Rihm im deutschen Musikleben zukommt. Zu Beginn des letzten Jahrzehnts bearbeitete sich Dusapin den Roman „Il Codice di Perelà“ zum Libretto. Mit ihm hatte sich Aldo Palazzeschi 1911 als literarischer Freibeuter profiliert und versucht, die Meinungsführerschaft unter den „Futuristen“ zu erobern.
Der Roman, in dessen Zentrum das Phantasiegeschöpf Perelà steht, zielte auf die gesellschaftliche unverträgliche Leichtigkeit Seins. Er fiel dementsprechend philosophie-, religions-, medien- und justizkritisch aus. Der Text steckt voll Ironie über das vor hundert Jahren auch in Italien noch bestehende monarchistische System und ein Volk, das bei diesem mitspielt und in ihm die Außenseiter mobbt. Dusapins in zehn Kapitel unterteilte Oper wurde 2003 in der Opéra Bastille raufgeführt (damals mit todschicken, aber den Realitäten weit enthobenen Kostümen von Andrea Schmidt-Futterer kühl modern inszeniert von Peter Mussbach). Nun kam das Werk, wiederum mit italienischem Text, zum ersten Mal nach Deutschland: Hermann Bäumer dirigierte die Premiere, Lydia Steier inszenierte am Staatstheater Mainz.
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„Schwarze Gebärmutter“ ist das erste Kapitel überschrieben. Es ist freilich ein schräg nach unten hängendes Rohr, aus dem Perelà unter leichter Rauchentwicklung auf den Boden der Theatertatsachen entlassen wird. Nackt und bloß kommt der unfreiwillige Held auf Erden an. Er steigt in die für ihn bereitstehenden großen Stiefel und lässt sich von einer depravierten Alten den Weg in die Stadt zeigen. Ganz auf sich allein gestellt. Wie sehr er aus der Einsamkeit kommt, signalisiert die Inszenierung von Lydia Steier, indem sie Wildwechsel anordnete: Statisten mit Rentierköpfen ziehen in stoischer Ruhe gradlinig von rechts nach links über die Bühne. Jeder auf eine kleine Klippe gestützt.
Bewundernswert, dass Peter Tantsits der Mangel an Bekleidung so hörbar wenig anhaben kann und was der Freigestellte mit seiner Stimme bewerkstelligt. Er muss sie immer wieder ins Falsett kippen lassen. Die an Kaspar Hauser erinnernde Figur wird von den Ober-Höflingen vorm Schloss begafft, das in seinem Schönbrunner Gelb so traulich und so hold wirkt. Man kommentiert den Exoten. Der wird dann vom Fußvolk des lächerlich kleinen Königs lärmend in Empfang genommen und in eine Hose gezwängt. Das Personal der Operetten-Monarchie wurde in Anlehnung an die Kostüme und spitzen Nasen der commedia dell arte grellbunt aufbereitet und trippelnd aufgezwirbelt in Szene gesetzt. Doch plausibler wirken würde Palazzeschis literarisches Anliegen womöglich in einer Bühnenlebenswelt, die auf die Kleiderordnung und Bewegungsabläufe in der Zeit der Entstehungszeit des Romans anspielt und auf die futuristischen Naherwartungen. So gehen die Momente, in den die philosophie- und religionskritischen Sentenzen mit filigranen Klanglineaturen in zart orchestrierten Klangfarben begleitet werden, in der Bühnenbetriebsamkeit etwas unter. Von besonderer Delikatesse die ja heute wieder akute Frage nach „Philosophy light“.
Das von Hermann Bäumer differenziert geleitete Staatsorchester im mittelgroßen Mainzer Theater allerdings setzt sich (für meine Ohren) sehr viel nachdrücklicher in Szene als das Pariser Opernorchester vor zwölf Jahren bei der Uraufführung in der riesigen Halle an der Place de la Bastille. Jedenfalls wurde in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt die Dusapinsche Annäherung an die real realistisch unlösbare Frage der menschlichen Leichtigkeit und der leichtgenommenen Menschlichkeit musikalisch plausibel. Aber die Hörwerkzeuge sind eben nach einem Dutzend Jahren nicht mehr die gleichen (sie sind abgestumpfter gegenüber manchem und hellhöriger gegenüber anderem).
Perelà wird in eine ihm unverständliche Welt geworfen, von dieser nicht wirklich angenommen und wieder ausgespien. Gezeigt wird das vor der Fassade des Schlosses oder auf dessen Rückseite, einer großen Freitreppe, die sich in Segmente aufspalten kann. Obwohl die nach eigenem Bekunden an sich liebesunfähige Marquise O. sich Perelàs in Liebe annimmt und am Ende auch gegen die Übermacht des Kollektivs verteidigt, kann er sich nicht eingemeinden. Die exzentrische Adelige wird von Geniève King so vorzüglich gesungen und dargestellt wie die pfauenhafte Königin von Marie-Christine Haase. Diese Sopranistin ist zugleich die hysterische Tochter Alloros. Und in dieser Rolle versteht sie, extremes komödiantisches Talent zu beweisen: Das kleine Luder trägt maßgeblich zum raschen Ende von Perelàs Karriere bei Hofe bei – immerhin sollte er das neue Gesetzbuch konzipieren.
Zuvor wurde er von der Neugierde und dem Wohlwollen der Damen getragen, dann vom investitionsbereiten Bankier, vom Philosophen und sogar vom Erzbischof gefördert. Indem der Bürger Alloro die Leichtigkeit des Seins erlangen und die Rauchfangerfahrung machen möchte, kommt es zur Selbstverbrennung. Perelà wird für den Tod verantwortlich gemacht und zu lebenslänglicher Verbannung in den Bergen verurteilt, aus denen er kam. Die Inszenierung von Lydia Steier griff die zum Teil sehr deutlichen und keineswegs immer schonungsvollen Anspielungen auf den Religionsgründer aus Nazareth nicht auf, zeigt nur eine kleine obszöne Szene des geistlichen Würdenträgers mit seinem Ministranten. Tja, Mainz bleibt Mainz. Zumal in der fünften Jahreszeit will man da nichts allzu Ernsthaftes zumuten.
Immer wieder fügen sich Pascal Dusapins mitunter weit aufgefächerte Vokalpartien in vorwaltend ruhigen Tempi zu Kantilenen und großen Arien. Dann aber schafft die Partitur (zumal im 6., 7. und 8. Kapitel) musikdramatische Kulminationspunkte, die unterstreichen, dass Aldo Palazzeschi Geschichte alles andere als bloß leicht zu nehmen ist. Dennoch überwiegt der Eindruck jener Passagen, in denen die Musik zur Augenhöhe des Leichtigkeitsanspruchs aufschließt, den der Roman im Kontext der Fragen nach Herkunft des Individuums, Sein und gesellschaftlicher Legitimität von Herrschaftszusammenhängen formuliert.