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Plakatmotiv zur Produktion.
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Pendant zur „Linie 1“ – „Stadtteiloper des Märkischen Viertels“ in der Reinickendorfer Jugendkunstschule Atrium uraufgeführt

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Von 1963 bis Frühjahr 1974 ist in West-Berlin die erste Plattenbausiedlung „MV“ mit etwa 17.000 Wohnungen für bis zu 50.000 Bewohnern entstanden. Der hohen Kriminalität kulturell entgegenwirkend, gibt es dort die „Bettina-von-Arnim-Schule“ – eine integrierte Sekundarschule mit gymnasialer Oberstufe als Modellschule des Landes Berlin –, die gebundene Ganztagsschule „Campus Hannah Höch“ und obendrein die Jugendkunstschule „Atrium“. Diese drei Organisationen kündigten die „Weltpremiere der ersten Stadtteiloper des Märkischen Viertels“ an, als ein Mitwandertheater durch die Räume des Atrium.

Die Handlung zeigt eine Familie im Hochhaus, in dessen Wohnzimmer plötzlich die neu gebaute U8 einbricht und damit eine neue weltoffene Haltung der teils verstrittenen, teils stumpf und dumpf dahin vegetierenden Familienmitglieder evoziert.

Tatsächlich hatte ein Student in Taiwan Forschungen über das Märkische Viertel und die ursprünglich für dort vorgesehene Endstation der U8 angestellt. Auf dessen virtuelle Befragungen im „MV“ (oder „ÄMM FFaU“, wie es hier geschrieben wird), basiert das Libretto zu „Das ÄMM FFaU – FAMiLiE MEYeR-SchULZ UND DIE UUH 8“ von Sarah Safferthal, einer ehemaligen Abiturientin der Bettina-von-Arnim-Schule.

Am Eingang der Jugendkunstschule Atrium werden die Eintritts(fahr)karten von Kontrolleusen abgeknipst, dazu wird chorisch skandiert, „Steig’ ein, ich will dir was zeigen, den Platz an dem sich meine Leute rumtreiben“. Von hier wird der Zuschauer an sechs weitere Locations der Schule als angebliche U-Bahn-Stationen geschickt. Hier erlebt er einen frustrierenden Dialog der ausschließlich weiblich besetzten, venezianische Masken tragenden Familie über die missliche Qualität des von der Mutter gekochten Essens und über die Idee, das Wohnzimmer zum Tanzplatz zu machen. Den erlebt er an der nächsten Station, einer im Innenhofgarten aufgeschlagenen Podestfläche, wo Mädchen mit Cowboyhüten zur Western-Konserve aus dem Ghetto-Blaster tanzen.

An weiteren Stationen dann vorproduzierte Videosequenzen, ein Mädchen als abzockende TV-Wahrsagerin, Kinder, die über Meteoriten phantasieren und – ernst gemeint – Filmporträts von Atrium-Studenten. Dazu beim Einlass von Ferne als Blasorchester Pauls Linckes „Das ist die Berliner Luft“, später ein Trommelrhythmus und eine einsame Flöte, oder ein Livesong zur E-Gitarre. Zwischendurch läuft der Zuschauer an Exponaten einer hausinternen Ausstellung vorbei, die Aufmerksamkeit heischen: architektonische Ideen für eine U8-Station oder ein animiertes Video eines Kindes, das zum Shoppen nach Neukölln fährt und frustriert wieder ins MV heimkehrt.

Diese Stationen, von den jugendlichen Darstellern dreimal durchgespielt, hat der Zuschauer nach 30 Minuten passiert und darf dann im Garten auf den veritablen Höhepunkt warten. Die 140 Schüler bilden ein Orchester mit Violinen, Gitarren, diversen Holz- und Blechblasinstrumenten, darunter drei Saxophonen, zwei Akkordeons, Schlagzeug und einer Reihe von Keyboards.

Unter der musikalischen Leitung des Musiklehrers der Bettina-von-Arnim-Schule, Aron Grahovac ertönt über einem Grundsound von Straßenlärm und Passentenbefragungen eine Folge von Songs und Chören im Musicalstil, die Volker Ludwigs erfolgreiche Bühnenversion des Musicals „Linie 1“ rasch als Vorbild deutlich werden lässt. Grahovac definiert seine Partitur als Verbindung von „Heavy und Nu Metal, Funk, Disco, Rap und Hip-Hop, aber auch mit Volksmusik und Schlager sowie mit Progressive Rock, Jazz und der musikalisch-satirischen Handschrift eines Frank Zappa“.

Im orangefarbigen Trainspotting-T-Shirt dirigiert Grahovac die Collage aus seinen Partituren mit Feuer und mit originellen Einsätzen. Dazu schweißt eine Gruppe als Bauarbeiter am neuen U-Bahn-Eingang „ÄMM FFau“, die Familie sitzt mit roten Kissen lethargisch auf einem roten Sofa, bis zunächst die versoffene Oma, dann – nach dem Einbruch der U-Bahn in die bizarre Häuslichkeit – eine TV-Reporterin mit ihren Interviews für Leben sorgt und eine weitere Kindergruppe mit einem selbst gebastelten U-Bahn-Führerstand umher fährt.

„Unser MV ist der beste Platz auf Erden“, wird immer wieder intoniert, und angesichts der so gewonnen Weltoffenheit erklärt selbst der alte Vater (gespielt von einem jungen Mädchen) seinem Dauer-Fernseh-Genuss den Abschied. Am Ende kommen die Instrumentalisten auch nach vorne, stimmen unisono und a cappella ein ins Loblied auf die Plattenbau-Siedlung, über Lautsprecher untersetzt mit Gospel-Einwürfen.

Nicht zu unterschätzen sind die Leistungen der Kinder und Jugendlichen für diesen in den vergangenen zwei Jahren im Rahmen des Modellprogramms „Kulturagenten für kreative Schulen“ einstudierten Abend. Am Ende der Uraufführung wurden sie allesamt mit Rosen bedacht.

Da das sommerliche Wetter ebenso mitspielte, wie die von einem Abiturienten vorgenommene Klangregie mit Mikroports und klassischen Song-Mikrofonen, war die abschließende Begeisterung der Eltern und Lehrkräfte für die „Weltpremiere“ groß. Eine Reihe von Ansprachen steigerte die vom Kunstwerk Oper – selbst einer „Dreigroschenoper“ – meilenweit entfernte Mixtur aus Laien-Schauspiel, Choreographie, Rap und Musical verbal zu einem weltbewegenden Opern-Ereignis, und Komponist und Dirigent Aron Grahovac kündigte das bevorstehende Fernostgastspiel der Gesamtproduktion in Taipeh an.

Weitere Aufführungen: 13., 15., 16. Juni 2015.

 

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