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Irvine Arditti, Violine, und Mayumi Miyata, Sho, im Konzert „Sakura“.  Foto: Rudolf Kalthoff/weit! weingarten e.V.
Irvine Arditti, Violine, und Mayumi Miyata, Sho, im Konzert „Sakura“. Foto: Rudolf Kalthoff/weit! weingarten e.V.
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Pendler zwischen West und Ost

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Der japanische Komponist Toshio Hosokawa stellte sein Schaffen beim Festival „weit!“ in Weingarten vor
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Die von der Pianistin und Pädagogin Rita Jans 1986 gegründeten Weingartener Tage für Neue Musik waren 30 Jahre lang ein kulturelles Aushängeschild der Stadt. Bis 2015 wurden jeweils an einem Wochenende Werke eines zeitgenössischen Tonsetzers präsentiert, der selbst anwesend war. Als Jans starb, war die Zukunft des Festivals zunächst ungewiss. Nach sechsjähriger Pause gelang nun eine erfolgreiche Wiederbelebung mit modernisiertem Konzept. Auf Einladung des neuen künstlerischen Leiters Rolf W. Stoll kam Toshio Hosokawa als erster „Composer in Residence“ zu einer dreitägigen Werkschau nach Weingarten.

Rita Jans war es gelungen, internationale bekannte Größen wie John Cage, Karlheinz Stockhausen, Klaus Huber und später Georg Friedrich Haas oder Sofia Gubaidulina für „ihr“ Festival zu gewinnen. Zum 30-jährigen Jubiläum im Herbst 2015 lud die hochbetagte Macherin ein zweites Mal Wolfgang Rihm ein. Er war ihr letzter Gastkünstler. Ein Förderkreis bemühte sich um die Weiterführung des Projekts und wandte sich 2019 an den Musikwissenschaftler Rolf W. Stoll, der bis zu seinem Ruhestand die „Neue Zeitschrift für Musik“ als Chefredakteur betreut hatte. Auch am Layout für ein Buch zum Weingartener Festivaljubiläum war der ehemalige Klavierschüler von Jans beteiligt gewesen. Da er nun Zeit habe und in der Szene Neuer Musik mit Komponisten, Interpreten und Ensembles gut vernetzt sei, sagte er zu. 

Den Markenkern des bisherigen Fes­tivals will Stoll erhalten. Weiterhin wird also jährlich ein Komponist zu einem dreitägigen Werkporträt nach Weingarten eingeladen, dabei aber in Zukunft mehr Wert gelegt auf besucherfreundliche und modernisierte Präsentationsformen. Unter dem Namen „weit!“ soll sich der Blick auch auf den gesellschaftlichen und historischen Kontext der präsentierten Musik und auf ihr kulturelles Umfeld ausweiten. Durch Kooperationen mit der Pädagogischen Hochschule, Institutionen der Erwachsenenbildung und vor allem mit Schulen im Umkreis möchte Stoll zudem den Aspekt der Vermittlung stärken und mit allgemein verständlichen Education-Formaten anstelle von wissenschaftlichen Vorträgen ein breiteres Publikum erreichen. Im Herbst 2022 kommt Sarah Nemtsov als Composer in Residence, 2023 folgt Rolf Riehm.  

Der diesjährige Gastkomponist Toshio Hosokawa wurde 1955 in Hiroshima geboren, lebte aber nur vor seinem 20. Lebensjahr kontinuierlich in Japan, wie er in Weingarten erzählte. Dennoch sei das natürlich eine prägende Zeit für ihn gewesen. Anfang der 80er-Jahre ging er nach Berlin, um bei dem koreanisch-deutschen Komponisten Isang Yun und später in Freiburg bei Klaus Huber zu studieren. Seither sei er sechs bis acht Mal jährlich zwischen Deutschland und Japan gependelt, bis ihn Anfang 2020 ein pandemiebedingter Stop für Europareisen länger in der Heimat festgehalten habe. Zum Weingartener Festival sei er jetzt erstmals wieder nach Deutschland gekommen.

Bewegend berichtete Hosokawa von seiner Mutter, die kurz vor seiner Abreise im Alter von 91 Jahren gestorben sei. Als junges Mädchen habe sie den Atombombenabwurf in Hiroshima überlebt, weil sie zur Zeit der Explosion nicht im Zentrum der Stadt gewesen sei. Der Anblick von Menschen mit entsetzlichen Verbrennungen habe sie schwer traumatisiert. Dennoch habe sie nach dem Krieg geheiratet und eine glückliche Ehe geführt. Hosokawas Großvater und seine Mutter spielten Koto, eine japanische Zither. Sein Vater verstand sich auf Ikebana, die Kunst des Blumensteckens. Traditionelle japanische Musik habe er als Kind jedoch immer langweilig gefunden, erinnerte sich Hosokawa. Stattdessen habe er damals lieber Klavier gelernt und sich für Orchestermusik von Beethoven bis Strawinsky begeistert. Seine Eltern hätten ihn dabei aber stets unterstützt.

Erst in Berlin entdeckte Hosokawa bei Festivals für außereuropäische Musik die Schönheit heimischer Klänge, nachdem er erfahren hatte, dass zeitgenössische Komponisten in Euro­pa und Amerika sich für derlei Traditionen, Instrumente und Tonsysteme schon länger interessiert hätten. Bei Yun lernte er dessen Synthese von alter koreanischer und westlich- avantgardistischer Kunstmusik kennen. In Freiburg wurde er von Klaus Huber ermuntert, die Musik und das Denken seiner Heimat eingehender zu studieren. Dafür habe er sich dann beurlauben lassen, um in Japan bei Meistern verschiedener Künste in die Lehre zu gehen. Seither leben seine Kompositionen von solchen Anregungen. In Hosokawas Schaffen geht es wie in japanischer Landschaftsmalerei um leeren Raum und wie in der höfischen Gagaku-Musik um die Beziehung von Klang und Nicht-Klang. Seine Partituren führen an den Ort, „an dem sich Töne und Schweigen begegnen“. Eine Kalligrafie-Performance von Shoko Hayashikazi vermittelte in Weingarten eindrucksvoll, wie hier der Strich des Pinsels schon in der Luft be­ginnt. Die unsichtbare Energie der Bewegung teilt sich ihrer Fortsetzung auf dem Papier mit. Der Reiz entstehender Formen lebt von deren Spannung zu freibleibenden Flächen.

Auch dieser Denkweise ist Hosokawas Musik verpflichtet. Seine Klänge fangen quasi schon an, bevor das menschliche Ohr sie hören kann. Instrumentale Linien entfalten sich wie Pinselstriche mit Verzierungen, Schwebungen, Vorschlagsnoten, Glissandi, dynamischer „Unruhe“ oder Vibration als Gestaltungsmittel. Hinzu kommt der Einfluss des Ritualgesangs buddhistischer Mönche.

Beim Festival „weit!“ ergaben sich vielfältige Einblicke in Hosokawas Klangwerkstatt. Das auf zeitgenössische Musik spezialisierte Ensemble Musikfabrik präsentierte unter der Leitung von Natalia Salinas kammermusikalische Werke mit verschiedenen Besetzungen. Packend demonstrierte etwa der Tuba-Solist Melvyn Poore in „Voyage VIII“ Hosokawas phantasiereiche Übertragung asiatischer Formprinzipien auf westliches Instrumentarium. Bei dieser sorgfältig ausgehörten Reise entlang von umspielten, farblich ständig modulierten Liegetönen und naturhaften Geräuschen verlor man jedes Zeitgefühl. Ergänzend informierte ein hochinteressanter Vortrag der Kölner Japanologin Ingrid Fritsch mit Klang- und Bildbeispielen über traditionelle japanische Musikkonzeptionen.

Das von Gabriel Venzago dirigierte Münchener Kammerorchester verortete Musik des Gastkomponisten kontrastierend zwischen Werken von Bach und Haydn. Hosokawas „Zeremonieller Tanz“ für Streichorchester ließ zarte Klangwolken am Ohr vorbeiziehen, die kontinuierlich ihre Gestalt veränderten. Seine Solokonzerte für Bratsche (Xandi van Dijk), Trompete (Jeroen Berwaerts) und für die japanische Mundorgel Sho (Mayumi Miyata) gaben den Solisten Gelegenheit zu brillanten Interpretationen. Das Arditti Quartet spielte Solo-Kompositionen Hosokawas und vier seiner sechs Streichquartette – eine spannende, von Irvine Arditti, Ashot Sarkissjan, Ralf Ehlers und Lukas Fels souverän dargebotene Übersicht über rund 30 Jahre kompositorischer Entwicklung, die in jüngerer Zeit auch dem Geist romantischer Kunstmusik Europas unterschwellig mehr Raum zu geben scheint.

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