Die vierte Auflage des von der Musikhochschule und der Stadt Karlsruhe getragenen ZeitGenuss-Festivals übernimmt bei leicht ansteigendem Besucherinteresse viele erprobte Formate der vorhergegangenen Auflagen, weitet die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Institutionen innerhalb der Stadt aus, muss aber auch verzichten: In diesem Jahr fand nach Auslaufen der Förderung durch die Ernst von Siemens Musikstiftung weder ein Interpretations- noch ein Kompositionswettbewerb mehr statt.
Das Neue-Musik-Festival legte in diesem Jahr den Fokus auf Improvisation und Performance – „Performance is it“ ist das Schlagwort des Künstlerischen Leiters Achim Heidenreich – einerseits, andererseits auf den Komponisten Dieter Schnebel, für den der musikalische Freiheitsbegriff immer grundlegend war. Heidenreich charakterisiert das Schaffen des bedeutenden, 1930 in Lahr geborenen Komponisten und Theologen als ein durch die „Verbindung von Musik und Theologie, bei der Bild, Klang, Körper und Schrift in Verbindung mit der Transzendenz“ geprägtes.
Zudem prägend für die vierte Auflage des Festivals ist die weitgehende Konzentration auf lokale und regionale Kräfte und die Einbeziehung der Studierenden, die hier Gelegenheit bekommen, sich mit Neuer Musik auseinanderzusetzen, die ansonsten seltener ein Bestandteil des Curriculums einer Musikhochschule ist. Diese Beschränkung bringt auch gelegentlich eher Irritierendes mit sich: Jedes Jahr ist ein Konzert einem in der Fächerstadt lebenden Komponisten gewidmet, diesmal Boris Yoffe, dessen Beharren auf Tonalität und einem verschwommenen Schönheitsbegriff seine Musik zu einem Außenseiterprodukt innerhalb des Festivals macht. Andererseits kam bislang jedes Jahr der gebürtige Karlsruher Wolfgang Rihm musikalisch zu Wort, diesmal erneut mit einer Konzertmatinee, vermittelt zudem durch einen Konzertabend mit Werken seiner Kompositionsschüler und Schülern von Markus Hechtle. Einblicke in die oft wenig beachtet Cembalo-Avantgarde von 1960 bis zur Gegenwart gab der in Karlsruhe lehrende Kristian Nyquist.
Symptomatisch für die diesjährige Ausrichtung von ZeitGenuss waren beispielsweise Auszüge aus Mauricio Kagels „Staatstheater“, interpretiert von dem Ensemble TEMA, das auch schon ein fester Bestandteil der Veranstaltungsreihe ist, wobei Kagel auch bei dem unter dem etwas unglücklich gewählten Konzert-Motto „Sinfonische Blasmusik des 20. Jahrhunderts“ stehenden Konzert mit seinen „Zehn Märschen, um den Sieg zu verfehlen“ präsent war.
Zu den Konstanten von ZeitGenuss gehören auch die Auftritte der hervorragenden Schlagzeugklasse Isao Nakamura. Als überwältigender, vom anwesenden Komponisten gefeierter performativer Akt führte Isao Nakamura, der Doyen der Karlsruher Perkussionisten, erstmals seine eigene Fassung der Schlagzeugstimme von Schnebels „Stimme des Marathonläufers“ aus „Ekstasis“ auf. Der inzwischen 86-jährige Schnebel ließ es sich zudem nicht nehmen, eine Meisterklasse zur Interpretation eigener Werke zu leiten. Das Abschlusskonzert bot einen Querschnitt zumeist älterer Werke von den 1960er- bis 90er-Jahren, wobei bei der Aufführung der für Schnebel bahnbrechenden, Adorno gewidmeten „Glossolalie“ („Zungenreden“) für Sprecher und Instrumentalisten einerseits der Einfluss des Komponisten auf die moderne Vokalmusik deutlich, anderseits auch der schon sehr historisch gelagerte ästhetische Standpunkt dieses mit Dada-Anklängen arbeitenden Stückes erfahrbar gemacht wurde.
Das Ziel von ZeitGenuss, sich mehr und mehr aus dem engen Rahmen der Musikhochschule zu lösen, wo noch immer ein Großteil der Veranstaltungen stattfindet, und Kooperationen innerhalb der Stadt einzugehen, nimmt langsam Gestalt an. Wobei die Zusammenarbeit mit den „Karlsruher Meisterkonzerten“ beim Auftritt der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, in deren Beethovenabend ein Stück von Aribert Reimann („Nahe Ferne“) integriert wurde, doch oberflächliche Pflichtaufgabe blieb.
Beim Abschluss in der Evangelischen Stadtkirche hingegen konnte auch dem Thema Performance und Improvisation Rechnung getragen werden. Improvisationen an zwei Orgeln von Wolfgang Mitterer und Christian Markus Raiser mit elektronischen Zuspielungen wurden einem uraufgeführten Raum-Klang-Projekt mit Chorwerken baltischer Komponisten gegenübergestellt, die an unterschiedlichen Orten im Raum gesungen wurden.