Die 1889 am Mariinski-Theater Sankt Petersburg uraufgeführte Oper „Charodéyka“ (Die Zauberin) nach dem Schauspiel von Ippolit W. Schpaschinski hielt Tschaikowski für sein bestes musikalisches Bühnenwerk. Doch das Publikum teilte diese Vorliebe nicht. Über drei Stunden von Tschaikowskis edelster Musik überströmen eine Familientragödie. Eindringlich, faszinierend und zutiefst melancholisch. An der Oper Frankfurt gab es um die Spitzenleistungen von Asmik Grigorian und Claudia Mahnke viel andere intensive sängerische und szenische Höhenflüge. Das Premierenpublikum jubelte.
Der Fürst begehrt eine freigeistige, emanzipierte Frau. Seine Gemahlin will den Sohn dazu instrumentalisieren, diese aus dem Weg zu räumen. Doch Prinz Juri verliebt sich in Nastasja, „Die Zauberin“ oder besser „Die Bezaubernde“. Das setzt die Tragödie in Gang: Die Mutter vergiftet die vermeintliche Rivalin, der Fürst tötet Frau und Sohn. In Frankfurt wird er danach nicht wahnsinnig, sondern setzt sich den Revolver an die Schläfe. Doch deren Lauf ist leer.
So endet der Abend – da haben sich die beiden Haupträume auf der Bühne der Oper Frankfurt physisch-materiell längst ineinander verbissen. Christian Schmidt machte aus dem Landhof der Wirtin Nastasja ein Atelier, in der sich die queere Elite eines repressiven Systems ihre Heile-Welt-Nische erhält. Dagegen residieren die fürstlichen Herrschaften in einem gediegenen Salon mit Vitrine, in der Orden und Ikonen um die Wette gleißen. Die meisten im Publikum wissen noch nicht, dass Tschaikowski mit dem Niedergang in die unerbittliche Tragödie die Grundfesten der von ihm bekannten musikalischen Welt einreißen wird. In einer geschlossene Formen und Harmonien defragmentierenden Collage wird er mehrfach an die Grenzen der Tonalität gelangen. Da war auch der Regisseur Vasily Barkhatov zuerst ratlos und vertraute den Kostümen von Kirsten Dephoff, die offensichtlich genau wie er das Verhalten osteuropäischer Oligarchien genau beobachtet hat. Am Ende klagt das Orchester im Mezzopiano. Die Figuren artikulieren ihr Innerstes mit Noblesse, feinsten Seelenfarben und gedämpfter, reflektierter Leidenschaft. Der fast einstündige erste Akt malt ein Idyll von Freisinn, Liberalität und Arkadien.
Aber es gibt auch die krassen Farben eines rüden sozialen Klimas: Aerobic und Aberglaube schließen sich nicht aus. Aggression und drohende Anarchie durchdringen eine Aufstandsszene und sogar die wenigen Zellen, in denen doch Harmonie sein sollte. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester (Musikalische Leitung: Valentin Uryupin) mit dem Chor (Leiter: Tilman Michael) und die vielen, zum Teil aus dem Opernstudio besetzten Nebenpartien machen einmal mehr klar, warum die Oper Frankfurt in den letzten Jahren international als Spitzenhaus Prämierungen abräumt. Alles klingt exzellent, bewundernswert modelliert mit edlen Gesangslinien, dramaturgisch genau durchdacht. Valery Gergiev hat das vor fast zwanzig Jahren beim Gastspiel des Mariinski-Theaters im Festspielhaus Baden-Baden nicht so differenziert hinbekommen – aus mehreren Gründen.
Eine Fotostrecke erfindet zum Vorspiel die im Textbuch nicht erklärte Vorgeschichte Nastasjas. Erst harmonische, dann unglückliche Ehe, Kindstod, häusliche Gewalt, der Ehemann auf bizarren Abwegen und schnell tot. Nastasja sucht ihre Freiheit, findet und verteidigt sie. Die sexuelle Eifersucht der Fürstin ist also grundlos. Denn wenn der Fürst um Erfüllung bittet, setzt Nastasja sich eine Glasscherbe an die Kehle – alles, nur keine Übergriffe mehr! Diese emphatische Beschreibung der Handlung ist berechtigt. In keinem anderen Werk war Tschaikowski mutiger, konsequenter und offener. Gleichzeitig finden sich immer wieder phänomenale Kantilenen und Ariosi. Sie haben fast Puccini-haft verkürzten Zuschnitt und taugen deshalb nicht zum Wunschkonzert wie die großen Melodien-Hits aus „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“. Ohne Zweifel: „Die Zauberin“ ist Tschaikowskis Vorstoß zu einem Musikdrama eigener Intensität. Mit nur wenigen Strichen dauert das noch immer über drei Stunden reiner Spieldauer – Pause nicht inbegriffen.
Regie und Dirigent geleiten die Solisten mit gemeinsamer Intensität durch das anstrengende Werk, für das man an der Oper Frankfurt nur drei Gäste braucht – wie Intendant Bernd Loebe mit berechtigtem Stolz feststellt. Auf das Auditorium drückt dieses faszinierend unvergleichliche Spannungspotenzial. Die Hörner lassen ganz entfernt an „Tristan“, ein machtvolles Fortissimo an „Aida“ denken. In der Titelpartie der Nastasja brilliert die faszinierende Asmik Grigorian, die weniger dramatisch auftrumpft als die Heroinen der russischen Aufführungstradition. Auch Claudia Mahnke ist trotz ihrer lückenlosen Wagner-Experience noch hellstimmig und von deutlicher Diktion in der russischen Originalsprache. Keine Rachedämonin, selbst wenn sie in den Gifttrank spuckt und ab da visuell wie musikalisch die Ebenen zwischen Realität und Alptraum verschwimmen. Bildinhalte und Bilder, wie sie sich die Menschen voneinander machen, werden zum Drogenrausch ohne Drogen.
Am Ende Begeisterungsstürme, wie sie selbst an der Oper Frankfurt Seltenheitswert haben. Das lag auch an sehr bewusst aufgestellten Spannungsraketen. Die explosiven Szenen beginnen mit pikant prononcierten Wortwechseln auf präzisem Schauspiel-Niveau und explodieren desto unversöhnlicher. Eine solche tief-lyrisch bis hochdramatische Entwicklung gelingt, wenn es keine Polarität zwischen Gut und Böse, sondern nur ein Dazwischen gibt. Grigorian und Mahnke reizen dieses Potenzial aus und machen gerade deshalb Tschaikowskis größte Oper zu einem bewegenden, mitreißenden Drama. Auch die Herren-Sängerriege mit Iain Mac Neil als Fürst, Alexander Mikhailov als Prinz Juri und Frederic Jost als intriganter Strippenzieher Marmyrow ist hervorragend.