Nach zehn Festivaltagen ist das Podium Esslingen mit dem großen Abschlusskonzert „Die Supergroup“ zu Ende gegangen. 17 Hauptveranstaltungen, ergänzt um die Konzerte im neuen, familienfreundlichen Format der Salonkonzerte und ein Educationprogramm, das mehrere hundert Kinder in Kindergärten und Schulen erreichte, lockten rund 3000 Besucher an. Mit einem Frauenanteil von 80 Prozent Urheberinnen ist es gelungen, die Position von Komponistinnen zu stärken. Die Prämiere des in Esslingen entwickelten ersten Teils des STEGREIF.Orchester-Projekts „#bechange” bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen zeitigt ein ausgesprochen bemerkenswertes Ergebnis.
Einen Neustart in zweierlei Hinsicht erlebte in diesem Jahr das Podium Esslingen: Zum einen war es, wie vielerorts, die erste nicht vorrangig von der Pandemie geprägte Ausgabe des innovativ orientierten Klassik-Festivals seit zwei Jahren. Zudem wird das Festival, das den Kulturkalender der Region seit mehr als einer Dekade um zeitgenössische Präsentationsformen klassischer Musik bereichert, nach dem Ausscheiden von Gründungsintendant Steven Walter, der nun dem Beethovenfest Bonn frische Konturen verleiht, seit Jahresbeginn von einer neuen Doppelspitze verantwortet: Als künstlerischer Leiter fungiert der 29-jährige ostfriesische Musiker Joosten Ellée, die kaufmännische Geschäftsführung liegt in den Händen seiner ein Jahr jüngeren Kollegin Selma Brauns. Beider Instrument ist die Violine, als Gründungsmitglieder der Lüneburger Formation ensemble reflektor sind sie dem Esslinger Festival bereits seit Jahren verbunden.
Entsprechend verstehen sie das neue Podium-Motto „Laut die Zukunft träumen“ in erster Linie in Kontinuität zu dem, was Walter unter dem Rubrum „Musik wie sie will“ aufgebaut hat, Ellée spricht von „Erweiterung“. Geschlechtergerechtigkeit, Partizipation und politische Verantwortung seien Themen, die ihnen wichtig sind und weiter ausgebaut werden sollen, so Brauns. Derartige Zielvorstellungen mögen derzeit zwar auch andernorts formuliert werden, doch oft genug bleiben sie Ankündigung und Behauptung in einem Spannungsfeld, dessen Potentiale sich bereits in ihrer Absichtserklärung erschöpft zu haben scheinen. In Esslingen werden daraus gültige, gelebte, unhintergehbare Maximen der Programmgestaltung. Keine Spur zu erkennen von der mit dem Credo, die Position von Komponistinnen zu stärken, üblicherweise metonymisch einhergehenden Halbherzigkeit: Hinsichtlich der Urheberrechte an den gespielten Kompositionen beträgt die Frauenquote bei der 14. Ausgabe von Podium Esslingen an nicht wenigen Abenden einhundert Prozent.
Etwa beim „Lied der Nacht“ im Gemeindehaus am Blarerplatz, bei dem auch die Elemente der gesellschaftlichen Teilhabe und politischen Verantwortung zum Tragen kamen. Gemeinsam mit den Sängerinnen und Sängern der Kantorei der Stadtkirche unter der Leitung von Uwe Schüssler hatten Ellée und fünf Podium-Musiker ein Programm entwickelt und einstudiert, das an intimer Intensität kaum zu übertreffen war. Nocturnen von Dora Pejacevic (1885-1923) und Lili Boulanger (1893-1918), dazu zwei der „Gartenlieder“ sowie das „Schilflied“ von Fanny Hensel trafen auf zeitgenössische Positionen von Roshanne Etezady oder Julia Wolfe. Deren „Singing in the Dead of Night“ (2008) ist eine herausfordernde Auseinandersetzung mit dem musikalischen Material des Beatles-Songs „Blackbird“, den Paul McCartney 1968, inspiriert von J.S. Bachs Bourrée in e-Moll aus der Lautensuite BWV 996, in Hinblick auf die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung schrieb. „Musikalischer Leitstern“ und verbindende Klammer des Abends war Amy Beachs „Peace I Leave With You” (1891), zum Ausklang gemeinsam gesungen vom Chor, den Musikern und dem bewegten Publikum.
Am Eröffnungskonzert „Ewigkeit!“ in St. Dionys war wiederum das Jugendsinfonieorchester der Musikschule Filderstadt beteiligt. Bereits in der Ära Walter hatte das Festival begonnen, durch das Bespielen verschiedener Locations in die Stadtgesellschaft hineinzuwirken. 2022 waren darunter so unterschiedliche Spielstätten wie die gotische Franziskanerkirche, in deren von Kerzenlicht erhelltem, hoch aufragendem Chor mit „Schweigend singende Straßen“ eine kunstvoll aus Werken von Christine Burke, Johannes Brahms, Joanna Baillie, Dora Pejacevic und Cassie Wieland geflochtene Suite erklang, das Esslinger Eisenlager, in dem ein Trialog zwischen Bach’scher Fugenkunst, Louis Andriessens „Workers Union“ von 1975 und Missy Mazzolis „Ecstatic Science“ den Begriff der Fabrik unter dem Titel „Die Hand, das Werk“ aus unterschiedlichen Perspektive beleuchtete, das Autohaus Jesinger, in dem Julia Wolfes Globalisierungs- und Klimawandelstück „Fuel“ (2007) zur Aufführung kam (Stichwort: produktive Reibung), und die Druckerei Bechtle, die Schauplatz des mit einem guten Schuss Ironie „Die Supergroup“ betitelten Abschlusskonzerts wurde.
Apropos Ironie: Auch das kritische Hinterfragen der eigenen Position gehört zur persönlichen Handschrift des neuen künstlerischen Leiters. Ein ums andere Mal waren es Ellée und seine Violine, die ein Konzert eröffneten, oft erhöht auf einem Podium (!) oder einer Empore, immer allein und im Rücken des Publikums – eine Inszenierung, die im Verlauf des Festivals immer auffälliger wurde, um beim Epilog „Ich will noch ein bisschen tanzen“ im Kulturzentrum Komma die ultimative selbstironische Zuspitzung zu erfahren: Ellée interpretiert Cassie Wielands „Lung“, während er von einem Bühnentechniker in dichte Trockeneisnebelschwaden eingehüllt wird – ein junger Violingott in entrückter Pose.
Einen der Festivalmeilensteine markierte die Premiere der Tanzperformance „River/Fluss“ von Tian Gao. Die Tänzerin und Choreographin aus der Kompanie von Sasha Waltz erkundete die Chiffre des Flusses als Spiegel und Strom der Identitätsproduktion, Fluss als Lebensader und Grenze. Kongenial dazu die deutsche Erstaufführung von Caroline Shaws „Narrow Sea“ (2017): Die Enge der Passage, die Geworfenheit des Individuums darin wird auch durch die herausragende Isabel Pfefferkorn zum unvergesslichen Erlebnis – diese Mezzosopranistin ist ein Ereignis!
Die künstlerische Bilanz der Debütspielzeit von Ellée und Brauns ist eminent – das Versprechen, zeitgenössische wie alte Musik mittels „außergewöhnlicher Konzertdramaturgien“ auf kammermusikalisch höchstem Niveau zu präsentieren, wurde rundum eingelöst. Entsprechend traf man Kulturinteressierte aus der gesamten Region.
Vertieft wurde auch die Zusammenarbeit mit den Ludwigsburger Schlossfestspielen (LSF), die sich ebenfalls in einer Phase der Neuausrichtung befinden. Mit Beginn seiner Intendanz Anfang 2020 hatte Jochen Sandig die konzeptionelle Neuaufstellung programmatisch mit den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen verbunden. Mit einem von der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv geleiteten Friedenskonzert eröffnet, das zwar im Vorfeld in den Strudel der politischen Ereignisse geraten war, aber mit dem israelischen Pianisten Iddo Bar-Shaìˆ als Solist in Mozarts Klavierkonzert Nr. 23 A-Dur und einer eindringlichen Deutung von Gustav Mahlers fünfter Sinfonie ein bewegendes Erlebnis war, läuft Sandigs erstes vollständiges Saisonprogramm bis zum 16. Juli.
Die Kooperation mit dem Podium Esslingen stärkt insbesondere den Bereich der Neuen Musik: Was im dreitägigen Workshop in Esslingen von sechs Mitgliedern des STEGREIF.orchesters mit Erwachsenen und Kindern entwickelt und im Workshop-Konzert „#bechange“ präsentiert wurde, nutzten Nina Kazourian und Tabea Schrenk als Grundlage einer Rekomposition, die sich um Werke der Komponistin Wilhelmine von Bayreuth ranken. Mit ausgesprochen bemerkenswertem Ergebnis, wie sich bei der Premiere bei den Schlossfestspielen im Ludwigsburger Forum feststellen ließ: Die hochspannende, szenisch choreographierte Performance, mit der das STEGREIF.orchester nicht nur die ganze Bühne, sondern den gesamten Saal bespielte, wurde mit stehenden Ovationen gefeiert. Mit dem Programm „The Giving Tree“ des Rothko String Quartets (4. Juni) im Ordenssaal des Residenzschlosses und „Eclipse“ mit dem ensemble reflektor (1. Juli) stehen weitere Kooperationstermine an.