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von hinten: Franziska Krötenheerdt, Vanessa Waldhart, Yulia Sokolik. Foto: © Bühnen Halle, Foto: Federico Pedrotti
von hinten: Franziska Krötenheerdt, Vanessa Waldhart, Yulia Sokolik. Foto: © Bühnen Halle, Foto: Federico Pedrotti
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Physischer Irrsinn, digitale Happiness: Händels „Orlando“ in Halle

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„Händels zukunftsweisende Oper mit Orlandos großartiger Wahnsinnsszene und den Stoff durchreißenden Orchester-Rezitativen nutzt Halles Opernintendant Walter Sutcliffe für einen bizarren Sittenspiegel von Online-Idealen und physischen Störfällen mit schwarzhumorigem Empörungspotenzial.“ Es geht rund in Halle zur Eröffnung der Händelfestspiele 2022, findet unser Kritiker Roland H. Dippel.

1922 begann mit den ersten Händeltagen die Geschichte der Händel-Festspiele Halle. Diese reflektieren unter Leitung von Clemens Birnbaum bis zum 12. Juni das Jubiläum 100 Jahre mit einem ihre Aufführungsgeschichte reflektierenden Programm. Die Oratorien „Susanna“ und „Semele“ erklingen in Fassungen aus den Pionierjahren der Händel-Renaissance vor 1933. Die Oper „Orlando“ stand 1922 in der Einrichtung und Inszenierung von Hans-Joachim Moser als „Orlandos Liebeswahn“ auf dem Programm. Neuinszenierungen der Oper Halle von Händels „Orlando“ für die Festspiele von 1961 als Psychodrama, 1993 zum ersten Mal mit einem Countertenor (Axel Köhler) und 2010 spiegeln die Entwicklung von der deutschsprachigen Händel-Pflege zur historisch informierten Aufführungspraxis auf europäischem Niveau. Die Jubiläumsinszenierung des neuen Hallischen Opernintendanten Walter Sutcliffe mit Xavier Sabata in der Titelpartei enthält bizarre Überraschungen.

Weder seine Raumpflegerin Dorinda noch die von ihm umschwärmte Angelica wollen von Orlando so viel wie er von ihnen. Trotz der Eroberungstipps und Warnhinweise des digitalen Seelsorge-Therapie-Liebesberatung-Experten Zaroastre erntet Orlando allenfalls Anfangserfolge. Jetzt dreht er durch. Er fesselt beide Frauen und nimmt sie im Schmuddelkeller an die Leine. Über Kamera beobachtet er die Folgen seiner toxischen Anti-Heldentat. Händels zukunftsweisende Oper mit Orlandos großartiger Wahnsinnsszene und den Stoff durchreißenden Orchester-Rezitativen nutzt Halles Opernintendant Walter Sutcliffe für einen bizarren Sittenspiegel von Online-Idealen und physischen Störfällen mit schwarzhumorigem Empörungspotenzial. Orlando droht, wütet und rast gegen die von ihm zuerst umworbenen Bikini-Schönheiten. Makaber wird es, wenn er ein sorgfältig im Gefrierbeutel verpacktes Menschenhaupt aufträgt. Am Ende lichtet sich Orlandos Psychose-Schub. Händels Happyend zu fünft gipfelt in einem eitel Wonne strahlenden Instagram-Post. Alle mögen sich wieder. Die, welche sich kriegen, sowieso und die, welche sich nicht kriegen, mit mehr oder weniger überzeugendem Grinsen.

Sutcliffe macht zwingend deutlich, dass die nichtphysische Selbstdarstellung von heute die zeitgemäße Variante der Liebesparadiese, -inseln und -höfe aus Ludovico Ariosts Bestseller-Epos „Orlando furioso“ und den Schauplätzen der barocken Zauberopern von früher ist. Die Methoden, um sicher in den Wahnsinn zu rutschen, haben sich etwas verändert, nicht aber die Anlässe. Der europäische Ritter Roland verliert die chinesische Top-Lady Angelica an den muslimischen Medoro, findet aber bei der offenbar aus dem Mittelmeerraum stammenden Dorinda keinen gleichwertigen Spaß. Internationales Beziehungsmanagement war also bereits für die Händel-Zeit eine Fundgrube an tolldrastischen Geschichten. Sutcliffe musste nur etwas überspannen und schärfen. Im Programmheft präsentiert er sich als klarsichtiger Soziologe, der sich betreffend menschlicher Risiken im Profilierungszwang der sozialen Medien und ihrer Auswirkungen auf physische Beziehungen keinerlei Illusionen gestattet.

Gideon Davey versetzte Orlando demzufolge in ein styliges Wohnambiente, wo dieser sich mit Gymnastik fit hält und viel auf den Wandmonitor glotzt. Sitzgelegenheiten für mehrere Menschen an einem Tisch sind in Orlandos bunte Eleganz mit Zweckmäßigkeit vereinendem Appartement nicht vorgesehen. Orlando ist einer, die sich Kontakte und kleine Freuden fast immer aus dem Netz, nur in Ausnahmefällen bei anderen Menschen holt. Es wird deutlich schwieriger, wenn mehrere physisch zusammenkommen. Dabei sind die Outfits von immer lebensfreudigerer Buntheit und stecken so voller Verheißungen, dass Gesprächsinhalte damit gar nicht mithalten können. Manchmal lässt Sutcliffe die Figuren im Leerlauf paddeln und zeigt durch diese leichte Monotonie, auf welchem Nährboden Orlandos frenetische Psychose gedeiht. Solche Spaßregulative wirken in der 1728 am Londoner Haymarket Theatre uraufgeführten Händel-Oper nicht übergestülpt, sondern authentisch. Orlandos Wahnsinn hat bei Sutcliffe zwar keine Methode, wirkt gerade deshalb gleichermaßen stimmig und überzogen.

Das Exzessive der Orlando-Partie kann oder will der prominente Gast Xavier Sabata aber nicht modellieren. Seine Stimme spiegelt die Orlando nach intensivem Zappen und Surfen übermannende Gliederschwere, aber kaum gefährlichen Angriffsgeist. Sabata verhält sich bei den Frauen wie ein Grizzly unter Gazellen und Lamas mit bunten Wimpern. Vanessa Waldhart hat als Dorinda die etwas leichtere Stimme. Insgesamt ähneln sich beide Soprane, als hätten sie die gleiche digitale Selfie-Akademie besucht. Vielleicht verfügt Franziska Krötenheerdt über den etwas wärmeren Höhenstrahl, wenn Orlando sie aus der Komfortzone reißt. Yulia Sokolik übernimmt mit heller Rundung den Ritter Medoro, welcher bei der Uraufführung von der auf Männerpartien spezialisierten Francesca Bertolli gesungen wurde. Nur an dem ihr angesetzten Bart merkt man, das Sokolik eine Männerrolle mimt. Alle drei Frauenstimmen sind gut geführt. Ki-Hyun Park als Zauberer Zaroastro gibt einen imposanten Magier aus der Managementebene, was die schillernde Figur ihres Ausnahmerangs beraubt und in diesem Kontext stimmig ist.

Beim Händelfestspielorchester Halle gab es nicht die zwölf Geigen, wie sie zu Händels Londoner Vorstellungsserie nach Zeitzeugenberichten im Graben saßen. Trotz der kleinen Streicherbesetzung traten in der nivellierenden Akustik des Opernhauses Halle die Theorben nicht so deutlich hervor, wie man sich das gewünscht hätte. Auch das Instrumentalensemble und Christian Curnyn konnten in der zweiten Vorstellung am Sonntagnachmittag die permanente Überspanntheit der Affekte und Händels ausgedehnte Rezitative nicht mit jener sinnlich drängenden Überhitzung hörbar machen, welche dem Sujet angemessen wäre. Dafür gab es warm huldigende Klänge zu einer Feierstunde, der durch fast böse Bizarrerie die Flügel auf lebenswahres Maß zurechtgestutzt wurden.

  • Besuchte Vorstellung: So 29.05., 15:00 (Premiere: 27.05, 19:00) 

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