Einem bekannten Bonmot zufolge sei Oper in Glyndebourne, was sich zwischen Aperitif, Picknick und der Rückfahrt nach London-Victoria ereigne. Zweifellos war dies nicht die Absicht von John Christie und Mitstreitern wie dem ersten Musikdirektor Fritz Busch, als sie im Mai 1934 das berühmte Opernfestival auf der grünen Wiese ins Leben riefen. Und doch hat sich Glyndebourne mittlerweile zu einem ganz eigenen Festspiel-Ritual entwickelt, bei dem zwar die künstlerischen Kräfte stets erstklassig, für so manchen Abendgast aber deutlich zweitrangig sind. Für Neues Musiktheater kann nun diese leichte Unverbindlichkeit nur bedingt empfohlen werden. Ein Auftragswerk wie jüngst Peter Eötvös‘ Oper „Love and Other Demons“ bildet da keine Ausnahme.
Um es vorwegzunehmen: Die zu Recht mit einigem Stolz angekündigte erste große Produktion einer Eötvös-Oper im Vereinigten Königreich zeigt den Ungarn, der bereits 2001 als Dirigent in Glyndebourne gastierte, von seiner vielleicht zugänglichsten Seite – Eötvös nennt sie seine erste „quasi bel canto-Oper“ –, und mit einem Stoff, der zeitlose Literaturoper verspricht. García Márquez’ Roman „Von der Liebe und anderen Dämonen“ liefert dem Librettisten Kornél Hamvai eine thematische Vorlage, die uns in eine kolumbianische Hafenstadt des 18. Jahrhunderts führt, eine in Volksglauben hier und irrationalem Katholizismus dort erstarrte Gemeinschaft. Hier wird Sierva Maria, Tochter des Marquis, von einem tollwütigen Hund gebissen; dort wird sie, die doch unverletzt scheint, zunächst dem Arzt, dann als vermeintlich Besessene der Inquisition übergeben. Der mit dem Exorzismus betraute Pater Delaura verfällt nun selbst Sierva, dem Dämon der Liebe.
Dabei gelingen durchaus packende Theater-Momente, etwa wenn Siervas Illusion, sie komme bald frei, laut von der wirklich geisteskranken Mitgefangenen im Konvent zerlacht wird, wenn vermeintlicher Wahn in todessüchtige Gelassenheit changiert, wenn der fast unmerkliche Hundebiss eine sehr viel umfassendere, grundlegendere Form der Gefährdung andeutet.
Auch die von Eötvös auf mehreren stilistischen Ebenen angelegte Komposition differenziert das Geschehen konsequent mit musikalischen Mitteln weiter aus, spiegelt etwa eine statische, eine erstarrte Kirche in mikroharmonisch gebrochenen Chorälen; da sind register-artige Koppelungen, da sind musikalische Anspielungen auf das afrikanische Erbe Lateinamerikas, da breiten Celesta und Streicherflageoletts Klangflächen von zarter Eindringlichkeit für die Liebenden aus, sensibel gestaltet vom London Philharmonic Orchestra unter Vladimir Jurowski.
Die Schwachstellen sind dann auch die Schwachstellen der Dramaturgie. Zu wenig ausdifferenziert ist insbesondere der erste Akt, der ohne Rücksicht auf Picknick und Rückreise eigentlich zu zwei Akten hätte werden müssen; da bleibt zu wenig Raum, die verschiedenen Ebenen der Musik ausführlicher zu entwickeln. Dass ausgerechnet der Exorzist der Kirche entspringt, beansprucht die Glaubwürdigkeit ohnehin; dass der Pater sich aber binnen weniger Bühnenminuten zum unsterblichen Liebhaber verwandelt, ist jedoch nur durch das Abendmahl auf Glyndebournes Wiesen entschuldbar.
Dass die Rückkehr zum Bühnengeschehen nach 80-minütiger (!) Pause so manchem Besucher sichtlich schwer fällt, die Spannungskurve vor der verbleibenden knappen Stunde Operngeschehen quasi implodiert ist - es war nicht John Christies Absicht. Erst recht nicht, wenn er Eötvös‘ Oper gekannt hätte. So aber ist zwar Eötvös reif für die Insel; Glyndebourne hingegen ist wohl nur noch bedingt reif für Eötvös.