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Justice am Theater Genf. Foto: Carole Parodi

Justice am Theater Genf. Foto: Carole Parodi

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Plädoyer mit Tiefgang: Hèctor Parras und Milo Raus Oper „Justice“ in Genf

Vorspann / Teaser

In Genf gelangte am 21. Januar 2024 ein aufwühlendes Requiem und Memorandum mit Musik von Hèctor Parra auf das Libretto von Fiston Mwanza Mujila und das Szenarium von Milo Rau zur Uraufführung. Anlass für die Oper „Justice“ waren der Unfall und die Umweltkatastrophe, als im Februar 2019 in der Demokratischen Republik Kongo ein mit Säure gefüllter Tanklaster in einen Bus raste, 21 Menschen starben und mehrere Schwerverletzte überlebten. Aviel Cahn, der designierte Intendant der Deutschen Oper Berlin, hatte für das Grand Théâtre den Auftrag an den katalanischen Komponisten, den kongolesisch-österreichischen Schriftsteller und den auch die Inszenierung übernehmenden Schweizer Theatermacher vergeben. Roland H. Dippel besuchte die zweite Vorstellung des imponierenden Plädoyers. 

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Fünf Jahre nach der Katastrophe von Kabwe sind deutschsprachige Dokumente im Internet trotz subtiler Schlagwort-Recherche eher spärlich. Zu finden sind dagegen Stellungnahmen zum Unfall der Schweizer Firma Glencore und ihrer Tochtergesellschaften in der DR Kongo vom Herbst 2020 und Postulate ethisch motivierter Initiativen. Zu diesen gehört das von Milo Rau 2015 gegründete „Kongo Tribunal“. Ausgleichsleistungen für die Opfer und Angehörigen stehen noch immer aus. Damit erübrigt sich die Frage nach der Relevanz dieses faszinierenden Musiktheater-Hybrids aus Requiem, Reportage, Recherche und Sozialtopographie mit musikalischen Spurenelementen aus dem früher blühenden Kongo-Raum. Hèctor Parra nannte das von der Oper Genf beauftragte musikdramatische Gebilde schlicht Oper. Dessen Uraufführung in Koproduktion mit dem Festival Tangente St. Pölten (Vorstellungen am 30. April und 1. Mai 2024) geriet zum Glücksfall. Denn im Fadenkreuz von sozialem Wandel und „kolonialer Strukturen im Postkolonialismus“, wie es an einer Stelle des Librettos heißt, hat die Fülle der Mittel Sinn und Form. 

Die Videoarbeit von Moritz von Dungern und das sehr subtile wie suggestive Licht von Jürgen Kolb schlagen Brücken zwischen Fakten und Emotion, zwischen Betroffenheit und Kenntniszuwachs. Der umgestürzte Bus im Halbdunkel ist Mittelpunkt des sonst mit dekorativen Andeutungen arbeitenden Bühnenbilds von Anton Lukas. Zu Beginn erscheinen auf der Leinwand Bios und Kurztexte der Sängerdarsteller. Von Kulturprodukten, die mit methodischem Schematismus ihr Empathie-Soll zu erfüllen glauben, unterscheidet sich „Justice“ durch bedachtsame und behutsame Vielschichtigkeit. Parra und Rau liefern kein Tagesthemen-Substitut, sondern die Verkettung komplexer Mikroabläufe. So entfalten sie das weite Panorama internationaler Verflechtungen in der weltweit wichtigsten Region zur Kobalt- Förderung. Gleichzeitig zeigen sie ganz schlichte emotionale Verwurzelungen und Entwurzelungen. Dabei umgeht Milo Rau gezielt standardisierte Bekenntnis- und Bashing-Verschlagwortungen. Raus subtil gebaute Szenen verleihen „Justice“ mit Parras musikalischen Paarungen und Zellteilungen aus europäisch-afrikanischem Material auch eine hohe ästhetische Qualität. 

Musikalisch und dramaturgisch gingen Parra und Rau in ihrem Opus aus fünf Akten und Themeneinheiten von „Der Reichtum der Erde“ bis „Verschwundene Welten“ äußerst geschickt vor. Das lange Gitarrensolo des afrikanischen Jazz-Gitarristen Kojak Kossakamvwe malt eine Stimmung von Integrität und Identität, welche durch die auch didaktisch eindringlichen Episoden immer mehr ins Wanken gerät. Das gipfelt in dem späten und ohne Fortissimo-Ausbruch vorbeigleitenden Satz: „Fortschritt ist ein Tier... Wenn eine Ära zu Ende geht, eine andere beginnt...“ 

Also gibt es in „Justice“ lapidare Setzungen zwischen heftigem Schmerz und objektivierenden Weitwinkel-Perspektiven. Dazu durchflutet Parra die Akte und Szenen mit einem im Orchester und den Gesangsstimmen steckenden melodischen Gestus. Der Chor (einstudiert von Mark Biggins) ist immer wieder eine wichtige Stimme im Klangpanorama neben Videos vom Unfallort und einer einstmals blühenden Kulturlandschaft. 

Die Eingangsrede des als Prologus auftretenden Librettisten Fiston Mwanza Mujila schlägt die Brücke zwischen den Kontinenten. Er erklärt Gründe der Migration und die Sehnsucht nach kulturellem Austausch. Die folgenden Szenen verdichten diese Sehnsucht. Dass auf dem Bildschirm Betroffene und Opfer des Unfalls zu sehen sind, stärkt eher die Objektivierung als den Affektbezug. 

Die von Axelle Fanyo berückend und verzehrend eindrucksvoll gesungene Mutter des nach dem Unfall gestorbenen Kindes ist emotionales Zentrum und damit Hauptpartie. Lauren Michelle verkörpert dieses tote Kind und später die Anwältin. Episodisch bleiben der zu Beginn sehr präsente Countertenor Serge Kakudji als bei dem durch den Unfall beide Beine verlierenden Mann, auch der Firmen-Direktor in der Verkörperung durch den charismatischen Peter Tantsits und seiner Frau durch die still wirkende und dabei faszinierende Idunnu Münch. Imponierend ist der unverändert eindrucksvolle Bassbariton Willard White als Priester. 

Parra hatte bei seiner Intellekt und Intuition ausbalancierenden Komposition sicher an den transparent filternden Klang des Orchestre de la Suisse Romande gedacht. Titus Engel, der Experte für das fortgeschrittene 20. und frühe 21. Musik-Jahrhundert, steht am Pult, gibt Parras oft weichem Fluss eine gläsern-sensible Präzision. Es ist Zufall, dass „Justice“ parallel zu den Livestreams der szenischen Lesung „Geheimplan gegen Deutschland“ des Berliner Ensembles und des Volkstheaters Wien herauskam. Diese Koinzidenz zeigt den dringlich nötigen Anschub zur Politisierung von Theater mit hoher Breitenwirkung. Das Grand Théâtre de Génève hatte bereits 2023 die Uraufführung der Migrantentragödie „Voyage vers l'espoir“ von Christian Jost herausgebracht und sich jetzt mit „Justice“ definitiv einen führenden Platz unter den großen Opernhäusern hinsichtlich Diskurs-Ambition erobert. Langer Applaus nach der vollbesetzten zweiten Vorstellung. 

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