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Foto: Jan-Pieter Fuhr.
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Plattenbau-Phantasie: Schostakowitschs Operette „Moskau, Tscherjomuschki“ in Augsburg

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Hier und jetzt gibt es mehrere Argumente für Neuinszenierungen von Dmitri Schostakowitschs 1959 am Moskauer Operettentheater uraufgeführter und dann über Jahrzehnte vernachlässigter Musikalischer Satire „Moskau, Tscherjomuschki“. Das Staatstheater Augsburg präsentierte in der immer stabiler werdenden Ersatzspielstätte martini-Park eine russisch-deutsche Mischfassung, Liebe zu Details bei der Erkundung des sozialistischen Alltags und einen bravourösen Schostakowitsch-Sound. Jubel.

Anstehschlangen, das Lob auf den Gemeinschaftssinn und die erforderliche Frustrationsresistenz haben mit der Wohnungssuche im Sowjetrealismus 1956 genauso viel zu tun wie mit mitteleuropäischen Schnelltests und Corona-Durchhalteparolen. Diese Parallelen sind Zufall, denn zur theaterinternen Konzeptabgabe konnte noch niemand die deutschen Herbstrealitäten 2021 vorausahnen. In der DDR schaffte es Wilfried Seraukys Bearbeitung von Schostakowitschs Operette als „Alle helfen Lidotschka“ nur zu zwei Produktionen. Ausgesprochen wurde es damals kaum. Aber offenbar war Schostakowitschs Operettenspaß, der mit viel Witz und geheuchelter Sentimentalität Strukturschwächen des russischen Vorbildstaats vorführte, für die ostdeutsche Kulturversorgung unzumutbar.

Seit einigen Jahren kommt es zum Glück wieder zu Aufführungen von „Moskau, Tscherjomuschki“. Ein tolles, aber nicht einfaches Stück: In der Anstehschlange zur Wohnungsvergabe im Moskauer Plattenviertel-Pilotprojekt Tscherjomuschki steht sich eine Vielzahl von Temperamenten die Beine in den Bauch: Zum Beispiel das Paar Sascha (Alejandro Marco-Buhrmester) und Mascha (Natalya Boeva), die sich mangels gemeinsamer Bleibe nur outdoor treffen können. Oder Ljusjas Vater Baburow (Gerald Fiedler), der sein Huhn auf dem Balkon residieren lassen möchte. Amtsschimmel Barabaschkin (Gerhard Werlitz) ist in Vertröstungen und Verseilschaftungen weitaus cleverer als bei der effizienten Vermittlung. Wenn ein Funktionär wie Fjodor Michailowitsch Drebednjow (Shin Yeo) für seine Frau Vava (Kate Allen) und deren rosa Pekinesen ein Boudoir mit viereinhalb Zimmern braucht, hat das gegenüber normalen Volksgenossen allemal Vorrang.

Corinna von Rad beobachtete und inszenierte wieder äußerst genau. Moritz Müllers Bühnenbild ist eine halbfertige Vergabefiliale für Wohnkartons mit drangekleisterten Balkonen. Auf dieser Musterbaustelle spielen auch die Szenen in der Zukunftsabteilung des Moskauer Stadtmuseums, die berühmt-berüchtigte Taxifahrt und der Traum vom kleinen Glück im großen Neubaugebiet, das man erst hinterm U-Bahn-Endhaltepunkt, vielen weiteren Busstopps und Fußminuten erreicht. Toll ist das Nummerndisplay unter der Bühnendecke, das Zahlenreihen in schwindelerregende Höhen klettern lässt. Die Zahlen sind sogar noch höher als die durch Kameraeinstellungen zum Tanzen gebrachten Hochbauten aus den Pionierjahren des sozialistischen Optimismus (Video: Patrik Tischer). Auch das Textilverhalten der Werktätigen wirkt authentisch (Kostüme: Kathrin Plath).

Der hohe Anteil slawischer Provenienzen im Augsburger Ensemble führte zu einem für‘s Timing verhängnisvollen Einfall: Gesungen wurde Wladimir Mass’ und Michail Tscherwinskis Textbuch auf Russisch. Zu den in Ulrike Patows deutscher Übersetzung gesprochenen Dialogen schaltete man die Übertitel auf Russisch. Von Rad erarbeitete die Sprechszenen mit hoch anerkennenswerter Feinheit, was den Drive zu Schostakowitschs Turbospeed-Nummern jedoch empfindlich bremste. Schade war auch, dass Olena Sloia als sozialistisches Supermädel Ljiusja recht rau klang. Die Kür um diese beherzte Frau macht diesmal der baumhohe und dabei sympathisch aufschneidende Boris (Wiard Witholt), nicht der agile und vielleicht zu bescheidene Sergej (Roman Poboinyi).

Nach der Pause herrscht Dunkelheit auf dem Screen. Dafür beginnt die sowjetische Vision von Urban Gardens und sozialer Harmonie mit der leisen Magie eines in der Luft liegenden Tschaikowski-Walzers. Mehr als das rosarote Ringelschwänzchen zur Haupthandlung wurde das nach der Pause wie angeklebt wirkende Tableau nicht. Zum Schluss stehen alle wieder Schlange.

Trotzdem waren der Jubel und die Freude des Publikums riesig. Die aufgrund der diffizilen Stückproportionen verzeihbaren Handicaps gingen in Schostakowitschs satter, scharfer, parodistischer Musik unter. Letztlich geriet diese Premiere zu einer Sternstunde der Augsburger Philharmoniker unter Ivan Demidov. Und es war bei diesem Drive, diesem Furor und dieser brillanten Sättigung überhaupt keine Beeinträchtigung, dass man zwangsläufig das reduzierte Arrangement von Gerard McBurney spielte. Nicht nur, dass Demidovs tänzerische, energetische Verausgabung auf dem Dirigentenpult der Choreographie Altea Garridos für das Ensemble haushoch überlegen war. Man hörte noch deutlicher als in seinen Sinfonien Schostakowitschs geniale Fähigkeit, Klangidiome in ganz unspezifischer Vertonung erkennbar zu machen. Aus einigen Nummern lockt der im Sozialistischen Realismus als dekadent verrufene Jazz, ist aber keiner. Schostakowitschs Couplets sind genauso gut wie die Offenbachs. Die Partitur schrillt, jauchzt, brodelt, lacht. Und wie sich diese Musik belustigt über Amtsdünkel oder die unter Ortsgeschwindigkeit gemächlich dahin walzende Bürokratie! Das hört man mit überraschenden Schlagwerk-Akzenten und Melodien, welche die Wippe zwischen Wahrhaftigkeit und Parodie in perfekter Gerade halten. Das einzige, was diesem Abend fehlte, war eine Zugabe mit der musikalischen Taxifahrt für volles Orchester, Solisten-Ensemble und dem Opernchor, der die Kollektive um einige markante Typen vermehrte. Die Premierengäste im kurzfristig auf 25% geschrumpften Platzangebot jubelten mit der Lautstärke von glücklichen 100%.


  • Premiere: Sa 11.12., 19:30 (besuchte Vorstellung) – Wieder am Sa 25.12., 18:00 - Fr 31.12., 19:00 - Sa 08.01.2022, 19:30 - Di 18.01., 19:30 - Fr 04.03., 19:30 - Fr 18.03., 19:30 - So 27.03., 15:00 - Mi 13.04., 19:30 - So 01.05., 18:00 - Do 12.05., 19:30 - So 15.05., 18:00 (Änderungen vorbehalten)

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