Mit zwei Fakten wird Jürgen Flimm neuerlich in die Geschichte des Musiktheaters eingehen: mit der Wiedereröffnung des Opernhauses Unter den Linden nach siebenjähriger Umbau-Zeit und mit der szenischen Uraufführung von Robert Schumanns „Szenen zu Goethes Faust“. Damit hatte der Hausherr, anstelle einer nicht fertig gewordenen Rihm-Uraufführung, die Latte in jenem Genre, welches er wie kein Zweiter beherrscht, der Mixtur von Oper und Schauspiel, sehr hoch gelegt. Doch was ihm beispielsweise bei Purcells „King Arthur“ hinreißend gelang, erwies sich – insbesondere bei „Faust zwei“ – als ein zu sperriges und zu langatmig geratenes Unternehmen.
Mit eigenen Kräften der Staatsoper optimal besetzt und von der Sängerlegende Anna Tomowa-Sintow als Rezitatorin mit Goethes „Zueignung“ eingeleitet, diente diese Produktion am Tag der Deutschen Einheit als festliche Opern-Eröffnung inmitten eines „Präludiums“ mit diversen Sinfoniekonzerten und einer noch folgenden Uraufführung im neuen Opernstudio. Anschließend wird das erst auf der Publikumsseite komplett fertiggestellte Opernhaus erneut seine Pforten schließen und nach zwei Monaten – dann hoffentlich definitiv – seinen regulären Spielbetrieb aufnehmen.
Robert Schumanns in den Jahren 1844 bis 1853 entstandene „Szenen aus Goethes Faust“, die der Komponist zu seinen Lebzeiten selbst nie komplett zu Gehör bekommen hat, sind auch im Konzertsaal überaus selten zu erleben. Die oratorische Annäherung des um die Kunstform Oper ringenden Komponisten an Goethes Opus Maximum hat einen intendierten Torso-Charakter.
Sicherlich kannte Gustav Mahler, der Schumanns Sinfonien bearbeitet hat, auch dessen Faust-Szenen. In seiner Achten ist Mahler die musikalische Umsetzung der „Bergschluchten“, inklusive der Verkürzung des Textumfanges, dramatisch packender gelungen, wie auch die Tonsprache des Jüngeren Goethes Mystik trefflicher einfängt.
Aber wirklich dem Topos des „Faust zwei“-Endes dramatisch nahe gekommen ist der Schumann-Bewunderer Hans Pfitzner, gemeinsam mit seinem Librettisten James Grun, im szenischen Vorspiel zur „Rose vom Liebesgarten“.
Jürgen Flimm doppelt die Figuren der drei singenden Protagonisten mit Schauspielern. Zweimal Faust und Mephisto, das erinnert an die gesplittete Besetzung dieser Dramatis Personae in Peter Steins ungekürztem „Faust eins und zwei“ zur Expo des Jahres 2000. Naheliegende Interaktionen zwischen den Figuren und ihrem Alter Ego finden jedoch ansatzweise nur bei Meike Droste, der Darstellerin des Gretchen statt. Sven-Eric Bechtolf als Mephisto (und als Lieschen-Travestie) tönt leider wie ein zum Dialog gezwungener Sänger, und André Jung als alternder Lehrer Faust wird zum Goethe-Bearbeiter (etwa: „Dann magst du mich in Ketten fesseln“ statt „in Fesseln schlagen“).
Überstrapaziert
Problematisch, dass Flimm, der im ersten Teil mit dem in Nonnenprozessionen verwandelten Kirchenszenen wirkungsvoll einem rheinischen Katholizismus frönt, diesen in der Schlussszene von „Faust zwei“, der Verklärung des Haupthelden, überstrapaziert. Da fährt Faust, von zahlreichen Kähnen umgeben, wie Jesus auf dem See Genezareth, um dann von kahlköpfigen, buddhistischen Mönchen weiblichen Geschlechts wiederbelebt zu werden, während Mephisto mit Klingelbeutel und Dreizack Opferspenden von Gläubigen einfordert. Drei Patres verteilen an den Damenchor, der seine Oberkleider abgelegt hat, in schicken Einkaufstüten Messkelche.
Als eine letzte Brechung bleiben die – obgleich zuvor erlösten – Gretchens dann doch unter ADAC-Folien auf der Strecke. Das gemahnt an Richard Wagners Verballhornung „das ewig Weibliche zieht uns hinunter“.
„Zum Augenblicke sagen: Verweile doch!“ ist der Titel des Uraufführungsabends. Der gerät leider viele Augenblicke zu lang, so dass bei der anschließenden Premierenfeier im Apollo-Saal die Verballhornung „Verweile, doch nicht allzu lang!“ die Runde machte.
Zahlreiche geladene Gäste zogen es bereits nach der Pause vor, in der Konditorei der Staatsoper weiterzufeiern oder das von Sicherheitsschleusen umgebene rosarote Haus Unter den Linden vorzeitig zu verlassen. Obgleich der Regisseur die beiden berühmten Gretchen-Szenen vertauscht, das Gebet der schwanger gewordenen Geliebten von Faust vorgezogen hatte, ist der erste Teil des Abends, der das Publikum bis in den Anfang von „Faust zwei“ führt, durchaus gut nachvollziehbar. Goethes zweiter Teil ist ohnehin schwieriger zu verstehen, und die Reduktion auf einzelne Szenen erleichtert keineswegs das Verständnis. Erst recht, wenn zugunsten der Abwechslung von Schauspiel- und Musik-Szenen die Kontinuität der Handlung aufgegeben wird, verwundert es nicht, wenn jene Besucher, denen dieser Stoff nicht vertraut ist, wenig damit anzufangen wissen. So folgt der Erblindung und dem Begräbnis des (Sänger-)Faust in der nächsten Szene der noch lebende, mit Mephisto diskutierende (Schauspieler-)Faust. Der als Theatermittel im Spiel eingesetzte Hauptvorhang wurde bei der Premiere gar als Zeichen für das Ende missdeutet.
Der Maler und Bildhauer Markus Lüpertz war als Bühnenbildner gewonnen worden. In der selbstverliebten Dekoration dieses „Fürsten seiner Kunst“ (Lüpertz) – inklusive zweidimensionalem Selbstbildnis und dreidimensionalen, wenngleich an ihren Gliedmassen beschnittenen, zumeist das Portal rechts und links begrenzenden, u. a. mit Frauenunterröckchen gezierten Statuen von Mozart und Beethoven – schwebt ein Kasten als Theater auf dem Theater, der seine Herkunft von der gefeierten Staatsopern-Koproduktion der „Damnation de Faust“ in der vergangenen Saison nicht leugnen kann.
Im Gegensatz zur frechen Farbigkeit des Bühnengestalters, zeigen Ursula Kudrnas Kostüme Biedermeier-Einschlag; dem Rokoko–Ambiente des Hauses zollen Flügelkostüme der Elfen und ein nach seinem Ableben beflügelt gen Himmel schwebender Faust Tribut.
Stimmschön gestaltet Roman Trekel die Faust-Partie wie einen groß angelegten, orchesterbegleiteten Liederabend, mit der ihm eigenen Textintensität. Eine klangvolle vielleicht für das Gretchen schon zu gereifte Stimme bietet Elsa Dreisig. René Pape steuert einen heiter tanzenden Mephisto bei und interpretiert den Pater Profundus, trotz Notenpult, mit den ihm eigenen Textproblemen. Stephan Rügamer verblüfft als schwebender Pater Ecstaticus mit einem vollen akrobatischen Umschwung. Trefflich im Spiel in diversen Rollen die Damen Katharina Kammerloher, Evelin Novak, Adriane Queiroz und Natalia Skrycka sowie die Herren Gyula Orendt, Florian Hoffmann und Jan Martiník.
Der Nachklang des Hauses
Die bestens disponierte Staatskapelle, nun durch die Anhebung der Saaldecke auf einen Nachhall von 1,6 Sekunden (gegenüber früher einer Sekunde) fürs Publikum im Klanggenuss verlängert, nahm nach den Unterbrechungen durch die langen Schauspielszenen immer wieder neue musikalische Anläufe, von Daniel Barenboim zu pompös hochromantischem Klangduktus veredelt. Dass das neue alte Haus auch für Mozart gut klingen wird, liegt nahe, doch für Wagner, Strauss und Schreker muss sich dies erst noch erweisen.
Klanglich positiv getestet wurde in dieser Inszenierung auch das Singen aus den Rängen; der Raumklang des von Martin Wright einstudierten Staatsopernchores ist imposant.
Eine ganz ausgezeichnete Leistung boten die als Zauberer kostümierten Lemuren und seligen Knaben des von Vinzenz Weissenberger einstudierten Kinderchors.
Die den nicht übermäßig langen Gesamtapplaus störenden Buhrufer strafte Hausherr Flimm mit drohendem Zeigefinger. Ungeteilten Beifall und Bravorufe gab es für alle Darsteller, für die Staatskapelle und ihren Maestro Daniel Barenboim.
- Weitere Aufführungen: 6. 10., 14. und 17. 12. 2017.