Lange vorher ausverkaufte Konzerte. Ein begeistertes Publikum. Es fehlt nicht an Förderern, auch die Lokalprominenz lässt sich blicken: In seinem achten Jahr schwimmt das Esslinger Podium Festival auf einer anhaltenden Erfolgswelle. Ein Miesepeter, wer dagegen etwas einzuwenden hat. Dennoch muss die Frage erlaubt sein: Was ist das Besondere, was das junge Klassik-Festival von anderen unterscheidet?
Zunächst einmal die Mär vom jungen Publikum, das durch die unkonventionellen Formate erreicht und für die klassische Musik begeistert werde. Es ist richtig: Steven Walter, Minh Schumacher und ihr Team haben das Festival in sehr jungen Jahren ins Leben gerufen: 2009 waren sie gerade mal 20. Inzwischen ist die Mehrzahl der Beteiligten knapp unter 30, doch es sind auch wieder Zwanzigjährige dabei, wie die Altersangaben im Programmheft stolz vor Augen führen. Im gemeinsamen Projekt „Kulturrucksack“ mit der Württembergischen Landesbühne und der Städtischen Galerie Villa Merkel ermöglicht das Festival über 1.000 Fünftklässlern den Besuch der Aufführung von „Ein Kleiner Prinz“ mit dem Bundesjugendballett: verdienstvoll, wenn auch nicht gänzlich außergewöhnlich.
Aber wer sich etwa im Eröffnungskonzert in der Südkirche oder im Abschlusskonzert im Autohaus Jesinger im Publikum umschaut, sieht außer den 50 beteiligten Musikern und dem zwanzigköpfigen Team keinesfalls vorwiegend junge Gesichter. Es ist eher das Esslinger Kulturbürgertum, das sich bei den Konzerten die Ehre gibt, gern etwas früher kommt, um sich noch ein wenig auszutauschen, und auch nicht ungeduldig wird, wenn es etwas länger dauert.
Seit 2013 gibt es eine Podium Stiftung. Vorstandsvorsitzende ist Brigitte Russ-Scherer, bis 2007 Oberbürgermeisterin von Tübingen. Zum Vorstand gehören der Esslinger Goldschmied Lothar Kuhn und der Festival-Mitbegründer Adrian-Minh Schumacher. Im fünfköpfigen Stiftungsrat sitzen Oberbürgermeister Jürgen Zieger und der Anwalt Manfred Kessler vom Hauptsponsor KPMG, der global tätigen Steuerberatungsfirma. Ärzte, Anwälte, ein Apotheker, Unternehmensberater, Vermögensverwalter, Professoren, überwiegend aus Esslingen, auch ein ehemaliger geschäftsführender Gesellschafter eines der wichtigsten Unternehmen der Stadt sitzen im Stiftungsrat oder im 18-köpfigen Kuratorium. Sie haben das Podium-Festival unter ihre Fittiche genommen und kommen gern zu den Veranstaltungen.
Die Kombinations-Wirkung
Aber nun zum Programm: „Man muss sich schon fragen, warum noch ein Festival?“ fragt der Gründer und künstlerische Leiter Steven Walter. Es ist nicht so sehr die Musik an sich, die das Podium Festival auszeichnet. Sie bewegt sich in der Regel zwischen Klassik und Moderne mit besonderer Vorliebe für Romantik und Minimal Music. Es ist kein Festival für Uraufführungen und nur ausnahmsweise für zeitgenössische Musik. Dafür kombiniert Walter gern alt und neu: etwa beim Eröffnungskonzert in der expressionistischen Südkirche Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ mit dem irischen Post-Minimalisten Donnacha Dennehy. Und zwar spielt er die beiden Liederzyklen nicht aus, sondern würfelt sie bunt durcheinander. Das soll wohl die Romantik näher an die Gegenwart heranrücken, jedenfalls tendiert der Dirigent Miguel Pérez Iñesta dazu, aus Mahler minimalistische Motive herauszukitzeln und Dennehy wie ein romantisches Werk zu behandeln. Wobei freilich die motorische Präzision der verschachtelten Rhythmen ein wenig verschwimmt.
Dennehy taucht gleich am Tag darauf noch einmal auf. Zum Konzept des Festivals gehört allerdings, erst hinterher zu verraten, worum es sich handelt. Das Klavierstück „Stainless Staining“, geschult an Louis Andriessen und dem Spektralismus, steht musikalisch im Mittelpunkt eines Abends mit Tänzer und Live-Visuals über den Wahn Robert Schumanns, der in Koproduktion mit dem Heidelberger Frühling erarbeitet wurde. Eigentlich hat Dennehy aber mit Schumann nichts am Hut, und die frühen (!) Schumann-Lieder, die das Wort Wahnsinn enthalten, können zur Erhellung des seelischen Leidens am Lebensende des Komponisten ebenso wenig beitragen wie der Tänzer, dessen Rolle darin besteht, von Beginn bis Ende immer wieder auszubrechen und sich mit der Hand an den Kopf zu fahren. Dazu kommen Schnipsel von Jürg Frey, Xenakis, Schostakowitsch, Schnittke und Saskia Bladt, die alle nur eine Funktion haben: Schumanns Wahnsinn zu illustrieren.
Potpurri
Bei so viel Potpurri ist es eine Wohltat, am folgenden Tag im frisch renovierten ältesten Kino Württembergs die 15. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch ausgespielt zu hören. Zwar übertreibt der 22-jährige Violinist Jakob Encke ein wenig mit seiner Gestik, doch längst nicht so schlimm wie am Vortag Jonian Ilias Kadesha, der jeden einzelnen Ton mit einer Pathetik anstimmt, als sei er zutiefst gerührt von den Gefühlen, die der Komponist da hineingelegt hat. Schostakowitschs letzte Sinfonie ist so etwas wie eine Bilanz seines wechselhaften Lebenswerks. Sie bleibt dabei aber angenehm zurückhaltend, zumal in der Version seines Mitarbeiters Victor Derevianko für Klaviertrio und drei Schlagzeuger, die hier zur Aufführung gelangt. Schwungvoll, dann getragen, mit zahllosen Selbst- und Fremdzitaten: die sechs Musiker machen ihre Sache gut. Allerdings dürfte kaum einer im Publikum die vielen Anspielungen verstehen. Für einen Text im Programmheft hat es nicht gelangt, eine Einführung halten die Podium-Organisatoren für überflüssig.
Makrokosmos
Ein besonderes Ereignis ist auch George Crumbs „Makrokosmos“ mit der originalen Choreografie von John Neumeier, heute Leiter des Bundesjugendballetts. Es ist natürlich nicht verkehrt, andere Werke auf die Komposition hinzuführen zu lassen, die allein keinen Abend füllt. Von Philip Glass über Bela Bartóks „Mikrokosmos“ geht es weiter zu John Cages „Lecture on Nothing“. Von zwei Stehleitern herab wird ein schräg über der Bühne angebrachter Spiegel enthüllt, der erlaubt, das Ballett auch von oben zu betrachten. Aber das eigentliche Ereignis ist doch Crumbs „Makrokosmos“, musikalisch wie auch das Ballett. Warum dann anschließend wieder der Rückweg über Cage, Bartók und Glass angetreten werden muss, bleibt unerfindlich.
Zumutungen?
„Wir muten unserem Publikum einiges zu“, sagt Walter und meint damit wohl auch, dass das Abschlusskonzert mit Iannis Xenakis beginnt. Aber auch, dafür an einem verregneten Samstagabend bis ins Oberesslinger Industriegebiet zu fahren – für Junge Leute ohne Auto fast ein Ding der Unmöglichkeit. In der großflächigen Werkstatt des Autohauses entschädigt nach zwölf Minuten Neuer Musik zu Nebelmaschinen und dezentem Motorölgeruch sogleich Ralph Vaughn Williams mit tonalen Klängen für drei Instrumentengruppen, woraufhin Bartóks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ das Programm abrundet.
Stärken
Die Stärke des Podium Festivals sind die vielen verschiedenen Veranstaltungsorte, umso mehr, als in Esslingen ein Konzertsaal im eigentlichen Sinne fehlt, es dafür aber viele schöne, interessante, zum Teil spannende, ja aufregende Räumlichkeiten gibt. Davon können sich andere Veranstalter eine Scheibe abschneiden. Das Programm ist fast ängstlich auf die Zuhörerschaft ausgerichtet. Experiment heißt hier nicht experimentelle Musik, sondern immer wieder neue Versuche, das Publikum zu beeindrucken. Um sicher zu gehen, dass das auch klappt, sitzen bei jedem Konzert ein paar direkt Beteiligte, Musiker oder auch Festival-Team, in den hinteren Reihen und heizen durch „spontane“ Juchzer die Stimmung an.
Bequeme Form des Stadtmarketings
Für Esslingen ist dies eine bequeme Form des Stadtmarketings. Sicher fördert die Stadt das Festival wie auch das Land, im Verbund mit dem Hauptsponsor, sechs Stiftungen und einer ganzen Reihe weiterer Sponsoren und Partner. Aber es sind keine Kompositionsaufträge zu bezahlen, die Räumlichkeiten sind wenn nicht alle, so doch überwiegend umsonst. Ein Großteil der Organisationsarbeit findet ehrenamtlich statt.
Es gibt in Esslingen seit 1985 auch alle zwei Jahre das Festival tonArt. Auch dieses Festival findet an verschiedensten Orten statt. Uraufführungen sind hier mangels Etat ebenfalls eher die Ausnahme. Mit Robert Schumanns letzten Jahren beschäftigte sich das Festival bereits 2010. Aber das Thema lautete „Robert Schumann und die Neue Musik“. Seinen Gang in die Nervenheilanstalt Endenich reflektierten hier Werke zeitgenössischen Komponisten.