Walter Braunfels, der 1920 in München mit „Die Vögel“ einen nachhaltigen Erfolg errang, schuf 1938–1942 seine letzte Oper. Als „Halbjude“ diffamiert, lebte er in diesen Jahren der inneren Emigration isoliert am Bodensee. Seine Jeanne d’Arc-Oper verstand er als Ausdruck geistigen Widerstands gegen die NS-Diktatur. Die französische Nationalheldin, die allein der göttlichen Stimme gehorcht, betrachtete er als Heilige und Vorbild. Gestützt auf die Prozessakten von 1431 schilderte der Komponist in seinem Libretto das bewegte, trotz aller Widersprüche schließlich siegreiche Schicksal des Bauernmädchens: Die Oper endet mit einem Wunder, das sie als Heilige erkennen lässt.
Wunder gibt es oft bei Braunfels. Um so mehr erstaunte, dass ausgerechnet Christoph Schlingensief mit der szenischen Uraufführung betraut wurde. Er hatte schon 2004 in seinem Bayreuther „Parsifal“ Wundern misstraut und knüpfte in der „Johanna“ daran an. Hatte Schlingensief in Zusammenarbeit mit dem „Chaostheoretiker“ Carl Hegemann damals den Gral von Mitteleuropa nach Afrika verlegt, so wurde nun das heutige Asien statt des mittelalterlichen Frankreich zum Hauptschauplatz. Der Regisseur war eigens nach Nepal gereist, um dort rituelle Totenverbrennungen zu filmen. Wie damals in Bayreuth überlagerten auch jetzt in der Deutschen Oper Berlin diverse Videoprojektionen die Szene.
In Bayreuth hatte es sich 2004 um die subjektive Neuinterpretation eines bekannten Werks gehandelt. In Berlin dagegen ging es jetzt um die szenische Uraufführung einer vergessenen Oper, die bislang nur konzertant erklungen war. Bei der Vorstellung eines neuen Werks sollten eigentlich die Absichten des Schöpfers berücksichtigt werden. Dieser hatte sich ausführlich mit der historischen Jeanne d’Arc befasst, mit der er sich identifizierte. Seine „Johanna“-Oper ist mit dem ebenfalls autobiographischen „Mathis“ Paul Hindemiths verwandt. Wo dieser Matthias Grünewald einbezogen hatte, dachte der gläubige Katholik Braunfels an farbige Bilder aus mittelalterlichen Stundenbüchern. In der Berliner Inszenierung war davon wenig zu spüren. Kurzzeitig sichtbare Kirchenfenster wurden sogleich durch Anspielungen auf andere Kulturen überlagert. Pluralismus und Verfremdung dominierten.
Braunfels hatte wirkliche Menschen auf die Bühnen stellen wollen. Die Berliner Inszenierung machte dagegen die Opernfiguren zu Karikaturen. Der Johanna verweigerte sie ihren Helm und verlegte sie vom Gefängnis in eine Krankenstation. Ihr Vater war kein Bauer, sondern der heilige Nikolaus auf dem Rentierschlitten, der dann zur dicken Larve wurde. Auch andere Personen waren nur schwer zu erkennen, so Hohepriesterin und Inquisitor, die durch Zwerge verkörpert wurden. König Karl VII. wurde in Reims nicht gekrönt, sondern eingesargt. Die schon bei Braunfels komplizierte Handlung machte das Schlingensief-Team fast undurchschaubar.
Der literarisch hochgebildete Komponist hatte sein dreiteiliges Libretto mit den Begriffen „Berufung“, „Triumph“ und „Leiden“ überschrieben, die seinem eigenen Werdegang korrespondieren. Er hatte sich eine dramatische Oper vorgestellt, die am Schluss die überraschende Wende bringen sollte. Inszeniert wurde jedoch bewusst undramatisch ein nicht-linearer Rückblick. So stand die Totenverbrennung nicht am Ende, sondern schon am Anfang. Die Filmbilder aus Nepal zeigten aber nicht die Verbrennung einer Ketzerin, sondern einer Gläubigen – es war kein historisches Ereignis, sondern Sterbealltag in Nepal.
Angesichts der Erkrankung von Christoph Schlingensief hatte Carl Hegemann mit den Regisseuren Anna-Sophie Mahler und Søren Schuhmacher dessen Ideen aufgegriffen und weitergeführt. Hegemann, der sich als Opfer des Paderborner Katholizismus versteht, deutete nun die naiv-fromme Legende als versteckte schwarze Messe. Den schon bei Braunfels düsteren Marschall Gilles de Rais machte er vollends zum Satan. Dessen Gedanken aufgreifend wurde Johanna zur blasphemischen Widersacherin Christi. Ihr Herz, ein zentrales Utensil der Aufführung, trat an die Stelle des Kreuzes. So sah man denn in einer provozierenden Filmprojektion viele Kruzifixe, die auf den Müll geworfen wurden. Dann kam Leonardos Abendmahl auf die Bühne mit Gilles de Rais als Judas.
Braunfels’ Musik besitzt zuweilen liturgischen Charakter und oft dramatische Wucht, die gelegentlich die Grenzen der Tonalität streift. Ulf Schirmer, der sich erstmals 2004 bei der Oper „Die Vögel“ mit Braunfels auseinandergesetzt hatte, realisierte mit dem Orchester der Deutschen Oper den sinfonischen Fluss, ließ aber manches Detail, gerade im Pianobereich, unterbelichtet. Entsprechend wirkte die dicht gearbeitete Partitur weniger interessant als bei der konzertanten Aufführung. Glänzend und kraftvoll sang Mary Mills die Titelfigur. Morten Frank Larsen, der als Totengerippe den zwielichtigen Gilles de Rais verkörperte, stand dahinter nur wenig zurück. Der Herzog La Tremouille (Lenus Carlson) war als Berlusconi-Figur angelegt, der heilige Michael (Paul McNamara) als Fundamentalist. Eine noch prominentere Rolle als in anderen Braunfels-Opern spielten die Chorpartien, vom Chor der Deutschen Oper sowie den Knaben des Staats- und Domchors makellos gesungen. Im Gegensatz zur Musik präsentierte sich die Szene bewusst als unfertig und roh, hatte doch Schlingensief die Inszenierung nur von ferne verfolgen können. Trotz des pluralistischen Ansatzes fehlte die eigentliche Botschaft der Oper, die Auseinandersetzung eines gläubigen Menschen mit der NS-Diktatur, obwohl einmal in einem Monolog vom Tausendjährigen Reich die Rede war. Allenfalls gab es im Verlust des Raum-Zeit-Gefühls eine Parallele zur isolierten Situation des Komponisten, seinem damaligen Aus-der-Zeit-Geworfensein. Diese vage Offenheit schien das Premierenpublikum aber nicht zu stören, sondern im Gegenteil zu faszinieren. Es spendete langen, einhelligen Beifall wie schon lange nicht mehr bei Premieren der Deutschen Oper Berlin. Tatsächlich hat Intendantin Kirsten Harms mit dem Einsatz für dieses unbekannte Werk Mut bewiesen. Als Gegenpol zu den Eskapaden des Regieteams hatte es zuvor ein mehrtägiges Braunfels-Symposium gegeben, bei dem auch Frithjof Haas, der Vertraute des Komponisten, seine abweichende Meinung hatte vortragen können. Vielleicht wird er noch einmal eine werkgerechtere Inszenierung erleben dürfen, in der – wie etwa bei Messiaens Franziskus-Oper – Wunder auch auf der Bühne als Wunder erscheinen.