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Polyphonie der Zeit, verstörende Tonalität

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Eine Konzertreihe der Akademie der Künste Berlin beschäftigt sich mit „Kairos und Chronos“
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Unter dem Motto „Kairos – Chronos“ lenkt eine Konzertreihe der Akademie der Künste Berlin in Zusammenarbeit mit der Rundfunk Orchester und Chöre GmbH sowie der Kammerakademie Potsdam die Aufmerksamkeit auf eine solche Vielfalt. Eine kluge Auswahl zumeist zeitgenössischer Werke umreißt das Spannungsfeld des subjektiv erlebten, „rechten“ Augenblicks und der „objektiven“, messbaren Zeit.

Im Mittelpunkt des zweiten Abends, den Solisten vom Deutschen Symphonieorchester Berlin bestreiten, steht Gerhardt Müller-Goldbooms „Prooemion“ für Mezzosopran und Streichtrio, als Vorspiel zu einer noch zu komponierenden Oper über Ovids „Metamorphosen“ gedacht. Der zugrunde liegende Text aus dem Schlusskapitel reflektiert den ewigen Wandel der Zeiten, in welchem das Wesen der Dinge in immer neuen Formen Bestand hat. Sehr subtil übersetzt der Komponist das in Klang, indem eine zunächst in Ganztonschritten weit ausgreifende melodische Gestalt sich in immer kleinere Intervalle bis hin zu Achteltönen verengt, ohne ihre Proportionen aufzugeben.

An Spannung und Dichte steht Mark Andrés „…Als… II“ dieser Uraufführung nicht nach. Schraubt sich „Prooemion“ aus der Tiefe bis in zum Zerreißen gespannte Höhen, so verbleibt Andrés Komposition wie seine beiden anderen, Worte aus der Apokalypse des Johannes vertonende Werke in dunklen Instrumentalregionen. Der Hörer, von Klavier, Bassklarinette, Cello weiträumig umstellt, wird bald von harten Akkordblöcken, schwarzen Glockenklängen ähnelnden Clustern, gewalttätig ächzenden Druckgeräuschen bedrängt, dann wieder fahlen Nicht-Klängen am Rande des Verstummens ausgesetzt. „Hölderlin lesen II“ von Hans Zender, in dieser Saison composer in residence beim DSO, wirkt dagegen zunächst blasser in eher schematischer Handhabung von Stillstand und Bewegung: Barbara Ehwald zelebriert lange Sopran-Linien, die in Girlanden zerstäuben, presst zerhackte Laute heraus, um sich dann in umso hektischeren Wortkaskaden zu überstürzen. Live-Elektronik dient hier hauptsächlich der Verzögerung, der Verlängerung des Dialogs von Bratsche und Stimme. Die spröde, gleichwohl pathetisch aufgeladene Askese dieser Musik ruft ein „Leiden an der Zeit“ hervor, das Hölderlins bruchstückhaft verschwiegener Hymne entspricht. Inmitten all dieser einer Sprache der Moderne zuzurechnenden Musik bleibt es einem Werk des 19. Jahrhunderts vorbehalten, Zeitstrukturen in schärfster Konsequenz, gewissermaßen nackt und unverstellt zu thematisieren. Franz Schuberts Es-Dur-Klaviertrio „Notturno“ bedeutet zeitlose Hingabe an den Moment wie Verharren in der Dauer. In endlosen Terzengesängen, unaufhörlich wiederholten Dreiklangsbrechungen drückt sich jene Erstarrung aus, die nicht nur damalige Zeitläufe prägte, ein Kranken an der Zeit, das auch Hölderlin prägt. Die erste zaghafte Modulation in diesem Auf der Stelle Treten steht als individuelle Regung gegen unverrückbare Mechanik auf, fällt sofort wieder in sich zusammen. Befremdlicher, verstörender hat Tonalität nie geklungen.

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