Über sein literarisches und zeichnerisches Œuvre sowie sein politisches Engagement mochte man denken, was man wollte. Als moralisches Gewissen und ewiger Mahner konnte er zuweilen auch falsch liegen, nerven und selbstgerecht wirken. Doch wie nur wenigen und bedauerlicherweise immer weniger werdenden Kunstschaffenden von Rang gelang es Günter Grass immer wieder, die allerorten steigenden Aufmerksamkeitsschwellen unserer pluralen Mediengesellschaft zu übersteigen. Indem er über Fernsehen, Tageszeitungen und Radio eine breite Öffentlichkeit erreichte, schlug er – nicht trotz, sondern gerade weil er polarisierte – Brücken zwischen Geist und Gesellschaft, die verdeutlichten, dass Kunst keine isolierte Einzelsphäre ist, sondern das Recht, vielleicht sogar die Pflicht hat, Debatten loszutreten, sich in aktuelle Entwicklungen einzumischen und auf das Zeitgeschehen – wie auch immer vermittelt – diagnostisch zu reagieren. Am 13. April ist der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1999 im Alter von 87 Jahren in Lübeck verstorben. Wer übernimmt jetzt die Rolle dieses kulturellen Pontifex maximus?
Bezeichnenderweise wird vor allem in Bezug auf Neue Musik immer wieder nach Wirklichkeitsbezügen und gesellschaftlicher Relevanz gefragt. Schließlich bewegt man sich hier im Verhältnis zur viel größeren E- und übermächtigen U-Musik – ohne es selbst zu wollen – in einer Nische, die sich permanent gegen Vorwürfe von innen und außen zu verteidigen hat, sie sei elitär und abseitig. Vom 30. April bis 10. Mai befragt nun die fünfte Ausgabe des Festivals „ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln“ unter dem Motto „Musik.Politik?“ das Verhältnis zwischen Musik und Politik, nicht zuletzt mittels zahlreicher Uraufführungen. Dem Kompositionsauftrag, eine „Hymne für ein nicht existierendes Land“ zu komponieren, verdankt sich gleich eine eigene Serie neuer Werke von Julien Jamet, Georg Katzer, Michael Gordon, Georgia Koumara, Corné Roos, Hèctor Parra, Martin Smolka und Malika Kishino.
Weitere Uraufführungen stammen von Matthias Muche, Simon Rummel, Sascha Thiele, Péter Eötvös, Gerhard Stäbler, Christian von Borries, Yukiko Watanabe, Olga Neuwirth, Mark Andre, Marco Stroppa und Yoshiaki Onichi. Wie politisch all diese Werke tatsächlich sind, wird sich erweisen. Schließlich ist nicht automatisch politisch, was man als solches ankündigt, und sind umgekehrt auch Werke nicht zwangsläufig unpolitisch, die zwar auf einschlägige Titel, Texte, Widmungen, Zitate und Medien verzichten, über ihre Materialität, Faktur, Aufführungspraxis, Kontexte und Wirkungsweisen aber sehr wohl politische Gehalte transportieren können. Eben das gilt es in jedem Einzelfall zu ergründen.
Anschlussfähigkeit an gesellschaftliche Diskurse sind seit jeher vor allem Oper und Musiktheater dank ihrer Verbindung von Musik mit Text, Szene, Requisiten, Kostümen, Handlung. Uraufgeführt werden diesen Monat Péter Eötvös’ Einakter „Senza sangue“ am 1. Mai in der Kölner Philharmonie, Johannes Harneits „Alice im Wunderland“ am 2. Mai an den Bühnen der Stadt Gera, Beat Furrers „La bianca notte“ am 10. Mai an der Oper Hamburg, Annesley Blacks „Schlagaufschlag“ am 17. Mai und Lucia Ronchettis „Esame die mezzanotte“ am 25. Mai am Nationaltheater Mannheim sowie Helge Burggrabes Oratorium „Lux in tenebris“ für Solisten, Chor und Orchester mit Sprache und Lichtkunst am 14. Mai im Hildesheimer Dom anlässlich des 1.200-jährigen Bestehens des dortigen Bistums und der feierlichen Wiedereröffnung des aufwändig renovierten Bauwerks aus dem 9. Jahrhundert, dessen Geschichte mit Zerstörung und Wiederaufbau das Oratorium verarbeitet.
Weitere Uraufführungen
08.05.: Miroslav Srnka, moves für Orchester, Enno Poppe, Ich kann mich an nichts erinnern für Chor, Orgel und Orchester, musica viva Herkulessaal München
09.05.: Susanne Stelzenbach, Luftspiel für großes sinfonisches Blasorchester, Berlin
15.05.: Dieter Schnebel, Movimento sowie 16 Miniaturen in Hommage à Armin Köhler, upgrade – Neue Musik Vermittlung Donaueschingen
17.05.: Isabel Mundry, Motions // der doppelte Blick, Händel-Festspiele Stadthalle Göttingen
29.05.: Carola Bauckholt, Voices for Harry Partch, KunstFestSpiele Herrenhausen Hannover
31.05.: Michael Radulescu, Neues Chorwerk, Konzerthaus Wien
04.06.: Sarah Nemtsov, Treppen im Meer, Theater Erfurt