Es war Leonard Bernstein bei seiner Vertonung von Voltaires auf Ideologiezersetzung und Moralkritik setzenden Kurzroman „Candide“ sicher nicht klar, dass diese Partitur noch nach seinem Tod Texter und Bearbeiter beschäftigen wird. Etwas hakte immer in dieser bösen Weltreise mit dem nüchternen Ende. Zeitweilig hielt man konzertante Aufführungen mit Loriots kongenialen Zwischentexten für die beste aller möglichen Realisierungen im deutschen Sprachraum. Das wird jetzt anders.
Die Übersetzung des jungen Regisseurs Martin G. Berger der von den Rechtsinhabern gestatteten Neufassung John Cairds, erstmals gespielt 1999 am Royal National Theatre London, macht das Geschehen stringenter. Mit Mut zur Überlänge ist sie eine Spielvorlage, die mit der leicht veränderten Folge der Musiknummern und einem größeren Episodensprung im zweiten Teil die ausladende Handlungsfülle schärft und die bizarre Drastik Voltaires stark intensiviert. „Candide“ bleibt so ein Stück ganz auf Höhe der Zeit.
In Weimar fand 1986 die DDR-Erstaufführung in der Regie von Johannes Felsenstein statt, diese galt damals als problematisch. Jetzt gleitet das Deutsche Nationaltheater Weimar mit dieser Neuinszenierung nach dem Kunstfest „Hundert Jahre Kommunismus“ in die neue Spielzeit. Das ist programmatisch, denn auch in „Candide“ geht es um die Zertrümmerung von Ideologien. In fast vier prallen Stunden, während denen sich das Ensemble von der Bühne ins Parkett, auf den Rang, auf die Seitenbühne und in die Foyers spielt. Das Publikum bleibt sitzen, während Dilek Acay, Antonia Dieti und Leonie Lindl mit ihren Live-Kameras ebenso rackern wie die extrem geforderten Darsteller. Gespart wird nicht an Monitoren und Video. Das ergibt hier totalen Sinn. Der Doku-Spot von Bahadir Hamdemir zur Wunschkonzert-Ouvertüre zeigt zufriedene Säuglinge, Naturkatastrophen, menschliches Elend, Prostitution. Martin G. Berger holt, soweit ihm das möglich ist, in seiner Sicht auf das frustrierende Weltpanorama zu allem aus, was emotionsresistente, triebgesteuerte, politikverdrossene, glücksgeile Sinnsuchende heute in Bewegung hält. Sarah-Katharina Karl setzt dazu alle dekorativen Hebel in Bewegung. Niemand im Saal, so signalisiert sie dem Publikum im großen Spiegel, entkommt diesem Megawahnsinn. Keine Ausflüchte bei der Genderdebatte, wenn die sechs aussortierten Könige lieber travestieren als regieren. Der große Bluff vom Sex als Liebe fliegt gnadenlos auf. Sabine Hartzschs Kostüme verbinden die Zeiten in einem fies-geschmacklosen Retro-Rokoko, dass es einen erbarmt vor der Zivilisationslüge. Schneidig sind vor allem die bayerischen Militärs, die Baronesse Kunigunde nicht nur mit ihren Bajonetten aufspießen.
Kein Wunder, dass der Schauspielerin Dascha Trautwein in der Monsterrolle des stücktreibenden Autors Voltaire, er ist Conferencier und manchmal sogar große Mutter, auf ganz hohem Niveau einige Silben im Hals steckenbleiben. Candide, das wird zunehmend klar, ist ihr „alter ego“: Eine „coming of age“-Story, wie Naivität und Liebe zu Seelenpein und sexueller Unlust abstumpfen. Jeffrey Krueger von der Musikalischen Komödie Leipzig schlägt als Candide erst feine, musicaltypische Töne an, mit wachsender Frustration wird er später opernhafter. Die Frage nach dem ganzen Sinn gleitet in eine Klagewucht voll echter Tragik.
Diese Kontrastweite, die Sprungschnelligkeit von großen Revuegesten in kabarettistische Pointiertheit und der Schlüsselloch-Kitzel mittels Video machen die Produktion zu einem großartigen Abend. Das hat Brisanz, weil Martin G. Berger nicht in die feige Umleitung über operettig glättende oder verspielte Nebenstraßen ausweicht. Er stellt sich der Überlänge und kommt ihr einmal im Block zwischen der Zerstörung des westfälischen Schlösschens und dem Lissabonner Autodafé gefährlich nahe. Doch da, wo anderen Produktionen der Treibstoff ausgeht, in der Neuen Welt und Paraguay, hat er die richtige Energie und Kondition bis zum venezianischen Karneval, ein Lauf- und Freudenhaus in billigstem Rot und trostlos ohne Ende.
Martin G. Berger spart nicht an Kraft- und Fuck-Ausdrücken. Seine Übersetzung wirkt ebenso sinnfällig wie effektsicher. Am Ende, das ist seit John Caird neu, treten die Figuren aus der Story und fordern von Voltaire: „Schreib’s um!“. Nach dem traurig schönen Finalensemble wirft Voltaire diese Forderung weiter ins Publikum: „Schreibt’s um!“. Die Ratlosigkeit ist größer als am Ende der älteren Fassungen mit dem berühmten „Noch irgendwelche Fragen…?“
Die Regie unterläuft alle Knallchargen-Traditionen, die sich in „Candide“ hineingefräst haben: Maria Perlt von der Staatsoperette Dresden zeigt als zirzensische Kunigunde bei aller vokalen Trapezakrobatik das nicht ganz gebrochene Herz hinter der Korsage des Luders. Nikolaus Nitzsche holt ihren versnoppten Bruder Maximilian aus der „Schwuchtelfalle“ und wird gefährlich. Uwe Schenker-Primus heiligt als geiler und windiger Schönschwätzer Pangloss alle Mittel und Alexander Günther macht den im Frust der Gosse gefangenen Martin zum Publikumsliebling. Allerdings gibt es auch kleine Opfer: Aus der „Old Lady“ wird hier eine recht biedere „Alte Frau“. Stefanie Dietrich bleibt trotz RTL-Schnauze für dieses adelige Kuppelweib zu zahm.
Die hinreißende Staatskappelle Weimar, dazu der von Friedrich Bührer tänzerisch und von Markus Oppeneiger musikalisch rasant aufgepeppte Chor sind Hauptakteure. Immer geht es im Graben noch um anderes als auf der Szene, das Orchester generiert beeindruckende Tiefenschärfe. Am Pult sagt Dominik Beykirch sich vom pauschalen Happiness-Sound los. Die dynamische Detailfreude Beykirchs und der Musiker fördert viel bisher Unbemerktes aus Bernsteins Partitur. Diese erklingt mit musikalischer Ernsthaftigkeit und Sorgfalt wie selten. Auch deshalb nimmt die Aufmerksamkeit gegen Ende eher zu als ab. Die Schlacht der Staatskapelle und des Deutschen Nationaltheaters Weimar endet mit einem strahlenden Sieg gegen die Tücken des noch immer extrem schwierigen Stücks.
Candide
von Voltaire
Musik von Leonard Bernstein
Buch adaptiert nach Voltaire von Hugh Wheeler in einer Neufassung von John Caird
Songtexte von Richard Wilbur
Weitere Songtexte von Stephen Sondheim, John Latouche, Lillian Hellman, Dorothy Parker und Leonard Bernstein
Deutsche Textfassung von Martin G. Berger
(Aufgeführt am Royal National Theatre, 13. April 1999)
- Musikalische Leitung: Dominik Beykirch, Regie: Martin G. Berger, Choreographie: Friedrich Bührer
- Weitere Vorstellungen: 09., 22., 30.09., 15.10., 03., 19.11., 10., 26.12. 2017