Irgendwann holt sich die Natur zurück, was der Mensch ihr abtrotzte. Aus Beton- und Mauerritzen kriechen Flechten, Moose, Gras, irgendwann Büsche und Bäume. Dann gibt es kein Halten mehr. Schon ganze Städte wurden vom Dschungel verschlugen, versanken im Meer oder Wüstensand. Was aus Orten wird, die Menschen gebaut und dann verlassen haben, lässt sich in großem Maßstab an der seit 1986 verlassenen nord-ukrainischen Stadt Tschernobyl beobachten und ebenso an der im gleichen Jahr stillgelegten Völklinger Hütte. Die gewaltige Ruine an der Saar stammt aus der Hochphase der Industrialisierung, ist seit 1994 UNESCO-Weltkulturerbe und feiert ihre Gründung vor 150 Jahren nun mit einer Veranstaltungsreihe.
Posthumane Visionen
Hitze, Staub und Lärm machten die Kokerei der weitläufigen Industriebrache einst zur „Hölle“. Heute nennt man das etwas abgelegene Areal „Paradies“, weil es sich selbst überlassen bleibt. Verwitterte Gemäuer, Träger und Gleise sind längst von Dickicht und Birken überwuchert. Auch Tümpel, Sümpfe und Schilfgürtel haben sich gebildet. Über die Relikte vormaliger Ingenieurleistungen wächst Gras. Die antizivilisatorische Kraft der Natur symbolisiert die zehn Meter hohe Monumentalplastik „KingKong“ des Bildhauers Ottmar Hörl, bisher bekannt geworden durch Serien verkleinerter Skulpturen großer Kulturheroen wie Gutenberg, Beethoven, Hölderlin, Brecht, Daimler oder Ludwig II. Dass in Völklingen der lebensfeindliche Feuerofen zum Biotop wurde, gibt Hoffnung – nicht unbedingt für uns Menschen, aber für die Selbsterhaltungskraft von Flora und Fauna.
Eben diesen Ort wählte Heiner Goebbels für „862 – Eine Orakelmaschine“. Wie seine vielerorts gezeigte Installation für Klavier ohne Pianisten „Stifters Dinge“ von 2007 kommt auch diese neueste „performative Installation“ fast ohne sichtbar handelnde Menschen aus. Umso präsenter sind menschliche Hinterlassenschaften im Sound-, Video- und Licht-Design von Willi Bopp, René Liebert und Marc Thein. Man hört und sieht Texte, Sprachdokumente, Gesangsaufnahmen, Bilder und die haushohe Kohlestampfmaschine in wechselnden Projektionen und Lichtern. Durch Kunstnebel und -schnee leuchtet die einstige Führerkanzel wie eine einsame Hütte inmitten der Urwald- und Trümmerlandschaft. Dazu klingen Natur- und Tierlaute, Vögel, Hummeln, Grillen, Wolfsgeheul und knackendes Unterholz. Als Kontrast zur posthumen Szenerie tönen Hammond-Orgel, Elektronik, Klappenschläge einer Bassflöte, Aktionen im Innenklavier und mit E-Bows summende Gitarren. Den einstigen Arbeitsplatz beschwören projizierte Eisenbahnschwellen, glühender Untergrund und fauchendes Zischen.
Aus einer rot aufleuchtenden Röhre tönt eine Frauenstimme wie Pythia im Orakel von Delphi auf dampfender Erdspalte. Doch der geweissagte Sinn bleibt kryptisch wie die Zahl „862“ im Titel der „Orakelmaschine“. Wie in anderen Projekten versammelt der Komponist und Theatermacher auratische Fundstücke aus Büchern und Schallarchiven, deren Summe jedoch beliebig wirkt und allenfalls darauf verweist, dass es menschenverlassene Orte überall gibt. Man hört Bauern- und Tanzlieder aus Griechenland, Kroatien, Litauen und der Ukraine, Texte von Heißenbüttel, Brecht, Marguerite Duras und Heiner Müller.
Die Schlussprojektion verwandelt das gesamte Gebäude in einen Wald. Doch dann fährt auf verbliebenen Schienen ein Scheinwerfer heran und entzaubert die perfekte Illusion. Die bisher verborgenen Maschinisten treten ans Licht und verlassen den Ort singend mit Silchers Chorsatz nach Chamisso: „Sollst uns nicht lange klagen / was alles dir wehetut / nur frisch, nur frisch gesungen / und alles wird wieder gut“.
Goebbels und sein Team eröffneten das neue interdisziplinäre Veranstaltungsformat „1200° – Musik Theater Kunst“ der Völklinger Welterbestätte. Deren erstes Programm enthielt zudem eine Multimedia-Installation des Schweizer Künstlers Rémy Markowitsch zur Geschichte der Eisenhütte sowie ein Chor- und Orgelprojekt von Rainer Oster zur Rolle der Hütte und heutigen Versöhnungskirche während der Kriege zwischen Deutschland und Frankreich.
Bis Anfang September war in der Gebläsehalle Julian Rosefeldts Filmparcours „When We Are Gone“ zu erleben. Vertikal und horizontal platzierte Leinwände zeigten eine Irrfahrt durch das Sündenbabel rückhaltloser Lustbefriedigung der 1920er Jahre, einen Soldaten in freiem Fall, Weltkriegsbombardements, Gangsterszenen, Wüstenplaneten und Drohnenaufnahmen menschengemachter Gegenden. Die Splitter dieser Menschheitsdämmerung verdichtete der 1965 in München geborene Filmkünstler dann zur zweistündigen Video-Oper „Euphoria“.
Auf umlaufenden Projektionsflächen erlebte das Publikum einen Jugendchor und fünf Drummer sowie auf einer Hauptleinwand Menschen in unmenschlichem Umfeld: Obdachlose zwischen abgewrackten Lastkähnen und Panzern, vollautomatisiertes Hochlager, Arbeiterinnen im Paketverteilzentrum, den kathedralenartigen Rundbau einer verfallenden Remise, eine nächtliche Taxifahrt durch das vereiste New York, und den prachtvollen Schalterraum der Bank of America mit Angestellten und Kunden, die plötzlich alle Fremd- und Selbstbeherrschung fahren lassen und in eine ekstatische Tanzorgie ausbrechen. Überall geht es um Gier, Geld, Macht, Wettbewerb und letztlich um die Erkenntnis: Eher geht die Welt zugrunde, als dass Egoismus, Kapitalismus und Militarismus durch Gemeinwohl, Liebe und Frieden abgelöst würden.
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