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Impression vom Detect Classic Festival am Tollensesee. Foto: Antje Rößler
Impression vom Detect Classic Festival am Tollensesee. Foto: Antje Rößler
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Prenzlauer Berg auf Landpartie – Das Detect Classic Festival am Tollensesee

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Historische Fabrikhallen, direkt am Ufer des Tollensesees in Neubrandenburg – das ist die Kulisse für das dreitägige Detect Classic Festival, das Konzertgänger und Clubbesucher vereint. Geboten wurden Sinfonisches und elektronische Live-Klänge, Kammermusik und DJ-Acts. Antje Rößler war dabei.

Strahlendes Sommerwetter und ein Badesee vor der Nase – beste Voraussetzungen für Festival-Stimmung. Die Ankömmlinge, meist aus Berlin angereist, verschnaufen erst einmal am Ufer, während ein DJ von der Freiluftbühne entspannte Beats übers Wasser schickt. 

Erstmals fand das Detect Classic Festival am Neubrandenburger Tollensesee statt; unter dem Dach der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Dieses Riesen-Festival, das im Sommer das gesamte Bundesland mit Konzerten versorgt, hat den Veranstaltern um die Junge Norddeutsche Philharmonie freie Hand gelassen. 

Laute Musik an der Seepromenade, mitten in der Stadt – im bislang nicht gentrifizierten Neubrandenburg ist das möglich. Das Festival bespielt ein Fabrikgelände, das die Nationalsozialisten als Torpedo-Versuchsanstalt errichteten; zu DDR-Zeiten wurden hier Panzer repariert. In zwei der riesigen Industrie-Hallen geben sich nun Musiker aus den Bereichen Klassik und Techno, Jazz, Improvisation und Klang-Performance die Klinke in die Hand. 

Freitagnacht trafen sich diverse Künstler und Ensembles zu einer mehrstündigen Wandel-Performance, die bis drei Uhr morgens dauerte. Mit dabei waren etwa die beiden Elektro-Cellisten Deep Strings und das 40-köpfige Ensemble Reflektor; oder aber Fuse aus Amsterdam, ein um Bass und Perkussion ergänztes Streichquartett. 

Zu Beginn wird gemeinsam in Stille geatmet und achtsam geschritten. „Dass man nicht spricht, ist im klassischen Konzert normal“, erklärt Juri de Marco vom Stegreif.orchester dem Publikum. 

In Berlin wird für so etwas der Platz knapp

Das Festival-Gelände ist frei zugänglich; nur am Eingang der Hallen werden die Armbändchen kontrolliert. Liebevoll-versponnen ist das Gelände eingerichtet. Als Sitz- und Liege-Gelegenheiten dienen allerlei phantasievolle Bretterkonstruktionen. Überall entdeckt man überraschende Details: Nebelschwaden, oder eine Girlande aus Krawatten. Der DJ sitzt unter den Beinen einer Riesen-Spinne; anderswo schleicht eine mannshohe Schnecke. 

Verantwortlich dafür waren die Berliner Kollektive Jonny Knüppel und Werkstatttraum, die sich als „selbstverwalteten, multidisziplinären, kreativen und kollaborativen Raum für Kunst- und Kulturgeschehen“ beschreiben. 

In Berlin wird für so etwas der Platz knapp. Doch Neubrandenburg, wo die Einwohnerschaft seit der Wende um fast ein Drittel geschrumpft ist, lassen sich noch Freiräume entdecken. Einheimische fanden sich allerdings kaum bei Detect ein, was aber vielleicht auch daran lag, dass zugleich die Schlager-Sommertour auf dem Marktplatz Station machte.

Die Idee für das Detect Classic Festival hatte Konstantin Udert, Geschäftsführer der Jungen Norddeutschen Philharmonie. Nach zwei Durchgängen im Berliner Funkhaus stellten nun die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern das Areal zur Verfügung und ließen die jungen Leuten einfach machen. Festspiele-Intendant Markus Fein hat beim Bund 375.000 Euro für drei Jahre Detect in Neubrandenburg eingeworben. Das ermöglicht eine faire Preisgestaltung: 55 Euro für drei Tage, plus zehn Euro für den Zeltplatz. 

Spielen, worauf man Lust hat

Zwei Konzerte fanden in der Neubrandenburger Kulturkirche statt. Hier bot die Junge Norddeutsche Philharmonie zusammen mit dem Perkussionisten Alexej Gerassimez ein ambitioniertes Programmmit John Adams’ „Harmonielehre“ und einem Schlagzeugkonzert des Chinesen Tan Dun. Nur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts – das wäre bei anderen Veranstaltern kaum durchsetzbar. Bei Detect jedoch konnten die Musiker spielen, worauf sie Lust hatten.

Zur Ausrichtung des Festivals passt auch das Stegreif.orchester, das improvisiert und auf Dirigenten verzichtet. Das Ensemble zeigte in der Kulturkirche seine neue Version von Beethovens „Eroica“; mit nur vier Geigen, dafür aber Gitarre und Schlagzeug. 

Dabei nahmen die Musiker das gesamte Kirchenschiff in Beschlag. Stühle liegen auf der Seite; Notenblätter fliegen durch die Luft. Beim Trauermarsch wird ein blutrotes Banner aufgezogen. 

Musikalisch hangelt man sich an Beethovens Dramaturgie entlang, wobei dessen Motive zum Ausgangspunkt für jazzige Soli dienen. Während die säuselnde Sologeige im Trauermarsch eher kitschig wirkt, überzeugt eine mitreißenden Parade a là New Orleans am Ende dieses Satzes. Unterm Strich geht der Beethovensche zielgerichtete Sog durch die solistischen Einschübe jedoch verloren; die Musik zerfällt in Episoden. 

Großer Andrang herrscht am Samstag bei den stündlichen musikalischen Dampferfahrten über den Tollensesee. Wir erlebten die Multi-Instrumentalisten Wowly & Plüschi, deren Klänge so zart raunten und sirrten, dass der Steuermann den Motor abschaltete und auch ein wenig mit den Schultern im Takt wippte. 

Das Detect Classic Festival will „ein junges Publikum anlocken und für Festival-Spirit sorgen“, sagt Festspiele-Intendant Markus Fein. Diese Rechnung ist aufgegangen – auch wenn bei rund tausend Gästen noch Luft nach oben ist. 

Man erlebt den Prenzlauer Berg auf Landpartie. Unterwegs sind hier junge, gemeinhin „alternativ“ genannte Menschen, die barfuß laufen, Umhänge-Wasserflaschen über der Schulter tragen und sich vegan ernähren – zumindest bietet die Festival-Gastronomie nichts anderes. 

Im Trend

Die Besucher erleben Musik anders als mittels des von klassischen Werken geforderten konzentrierten Zuhörens. Ihnen dient das Konzert dient als Abwechslung, zum Chillen, oder als soziale Plattform; den Besuchern ist die Interaktion untereinander und mit den Musikern sehr wichtig. 

Klassische Musik jenseits konventioneller Aufführungen erleben, hautnah und in entspannter Atmosphäre, mit Bierflasche in der Hand – das liegt im Trend. Nachdem die klassische Musik den Club erobert hat, wird seit ein paar Jahren auch das Festival-Format ausprobiert. Die Brandbreite reicht vom durch Europa tourenden Club Contemporary Classical Festival bis zum Podium Klassik Festival in Esslingen

Dieser Aufschwung zeigt, dass der Erlebniswert des Konzerts immer mehr an Bedeutung gewinnt. Ob die jungen Besucher sich, wie erhofft, zu einem neuen, beständigen Klassikpublikum entwickeln, ist noch nicht ausgemacht.

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