Volltreffer! Beim zweiten Anlauf klappte es. Die Premiere von Engelbert Humperdincks „Dornröschen“ wurde am Beginn des zweiten Lockdowns im Herbst 2020 abgesagt. Vor zehn Monaten hatte man sogar vorsorgend eine Fassung mit zwei Klavieren anfertigen lassen, um für alle Einlass-Eventualitäten gewappnet zu sein. Durch die Verschiebung kam es im Theater Neustrelitz am 25. September 2021 zur ersten Vorstellung. Nur kurz vor dem 100. Todestag Humperdincks, der im Neustrelitzer Hotel Fürstenhof zwei Schlaganfälle erlitten hatte und am 27. September 1921 im Krankenhaus Neustrelitz verstorben war. Der Opernchor und die Neubrandenburger Philharmonie haben in „Dornröschen“ jede Menge zu tun.
Ganz unbekannt ist „Dornröschen“ spätestens seit der Einspielung unter Ulf Schirmer mit dem Münchner Rundfunkorchester und der als böse Fee Dämonia fulminanten Brigitte Fassbaender aus dem Jahr 2010 nicht mehr. Ludwig Baumann wagte mit der Oper Gut Immling vor 20 Jahren im KuKo Rosenheim eine Bearbeitung für kleinere Besetzung, in der Oper Leipzig saß das Gewandhausorchester hinter dem Ensemble auf der großen Bühne und Prinz Reinhold eilte dort aus dem Zuschauerraum zum Mond, zur Sonne und dann zu seiner mit 115 Jahren noch immer knackfrischen Braut.
In Neustrelitz griff die Regisseurin Jasmin Solfaghari bei den vielen „Dornröschen“-Sprechversen selbsthelfend zum Laptop, reimte, korrigierte und besserte so manche heute nach Vormoderne für gutbürgerliche Sprösslinge riechende Reimerei aus. Denn Humperdinck hatte mit Elisabeth Ebeling und Bertha Lehrmann-Filhés zwei Jugendautorinnen auf Höhe wilhelminischer Pädagogik und Kulturvermittlung zur Seite. Diesen schien das Rosenwunder im Märchen der Brüder Grimm zu schlicht. Deshalb erfanden sie einen ganzen kosmisch-allegorischen Akt dazu. In dem wird aus dem Prinzen ein Reinhold Skywalker, der bei Mond und Sonne Wunderringe sucht.
Anlass für viel Deko-Konfekt: Walter Schütze zögert nicht – er holt aus zu einer Feerie von Friedrichstadtpalast-Dimensionen und Augenorgien aus Kostümen, unter denen nur Dornröschens Erdbeer-Kleidchen wie Aschenputtel anmutet. Als hätte es die gesamte Forschungsliteratur über Märchen-Zeitlosigkeit und Problemflucht durch Tiefschlaf verinnerlicht, aktualisiert das jugendaffine Regieteam hie und da mit leichter Hand. Solfaghari lässt die die Hofherren eskortieren wie zum Tanz der Vampire. Beim Zweikampf des guten Prinzen gegen die böse Dämonia wummern „Star Wars“-Geschosse mit dumpfem Dröhnen. Der Hof paradiert, die Prinzessin rappt.
Aber Königin Armgart (Grit Kolpatzik) und König Ringold (Markus Kopp) sind schon mit der diplomatischen Beschwichtigung ihrer schönen Gegnerin Dämonia restlos überfordert. Und bei dem vorgesehenen König Bräutigam würden sich nicht nur Röschen, sondern auch Prinzessinnen aller Schichten in hundertjährigen Tiefschlaf flüchten. Betreffend bösem und gutem Feenzauber bietet Humperdincks Märchenspiel viel mehr als das Ballett Tschaikowskis und fast so viel wie der Animationsfilm von Walt Disney. Eine Umdeutung des auch sprachlich blumigen Geschehens, für das Humperdinck zu lieblichen und andererseits von Wagner gelernten blumenmädelnden, rheintöchternden Kompositionsmaßnahmen griff, ist nur schwer vorstellbar.
Andrés Felipe Orozco braucht als Prinz Reinhold und textile Landlust auslebender Sympathieträger nicht viel tun, weil ihn Humperdincks Melodiensegen unverwundbar macht. Bei den Wagner-Reminiszenzen zeigt sich der Komponist mehr von einer fraulichen Seite. Sogar die böse Fee Dämonia verrät hinter der Zerstörungswut eifersüchtige Besessenheit. Ihre Jagd nach dem Prinzen ist eine Jagd nach Liebe und Sinnenlust, die im Untergang enden muss.
Die Akustik des kleinen Theaters Neustrelitz hat Tücken. Aber Daniel Klein führt die Neubrandenburger Philharmonie unter der nicht immer optimalen Textverständlichkeit glücklich zum richtigen Klangflair. Das Orchester ist bestens gerüstet mit flockenzarter Streicherdecke, Schwelgereien der Holzbläser, gekonnt maßhaltendem Blech und sanften Schlägen der Pauken, die bei Humperdinck erstaunlich gut zu tun haben. Die „Dornröschen“-Synthese beinhaltet Mendelssohns „Sommernachtstraum“-Aroma, geschmorte Wagnereien und minimale Formauflösungstendenzen, als hätte Humperdinck verstohlen in Debussys „Pelléas“-Partitur geblättert statt in Pfitzners „Rose vom Liebesgarten“. Die Partitur umschmeichelt sensible Erwachsenen-Ohren.
Die Wechsel zu den Dialogpassagen fesseln dagegen eher die Aufmerksamkeit von Kindern. Das Spielgeschehen vom Königshof über die Galerie, in der Prinz Reinhold beim Vogt des Ahnenschlosses (Ryszard Kalus) (Dorn-)Röschens Porträt erblickt bis zu den Sternen ist variantenreich. Die Prinzessin erhielt immerhin ein feines Solo, dann vor dem Stich an der Spindel eine tolle Ensemble-Nummer und als Steilvorlage zum Königskrönchen das den Geist der Frühromantik beschwörende Liebesduett mit Herzensprinz Reinhold. Trotz betörender vokaler Kurzsprints hat Marina Medvedeva in der Titelpartie wenig Siegchancen in der Publikumsgunst neben Iuliia Tarasova, die Dämonia als etwas tiefer gelegene, aber nicht minder eisglitzernde Sopran-Alternative zur Königin der Nacht nützt.
Das klingt in Neustrelitz ganz anders als auf der Münchner CD-Aufnahme. Um diese Alternative müssten sich Theater auf der Suche nach musikalischen Weihnachtsmärchen neben „Hänsel und Gretel“, dem ebenfalls etwas verschrobenen „Christelflein“ Pfitzners und Josef Achteliks „Peterchens Mondfahrt“ eigentlich reißen: Ein Großteil der Partien, von denen Mehrfachbesetzungen bis zu vier Solo-Rollen mit einer Person möglich sind, notierte Humperdinck mit die Tonhöhe fixierenden „Sprechnoten“ ad libitum für Schauspieler*innen oder Sänger*innen. In Neustrelitz durfte die böse Fee Dämonia also richtig singen statt palavern. Das aufgeweckte, die vielfältigen Aufgaben am Operettensommer-Hotspot spielfreudig meisternde Neustrelitzer Ensemble agierte mustergültig.