„Do we have some fucking music?“ Diesen frustrierten Ausruf hatte man vor zwei Jahren beinahe auf den Lippen, nach der ersten Ausgabe der Münchener Biennale für neues Musiktheater unter der Leitung von Manos Tsangaris und Daniel Ott. All zu wenig Musik war da zu hören gewesen – schlimmer noch: Man hatte den Eindruck gewinnen können, dass die geladenen Künstlerkollektive sich kaum für Musiktheater interessierten.
Die Frage stammt nun aber aus dem Eröffnungsstück der diesjährigen Biennale, dem man einen Mangel an Musik sicher nicht unterstellen konnte. „Wir aus Glas“ von Yasutaki Inamori präsentiert sich auf einer langgezogenen, von beweglichen Zuschauertribünen beidseitig befahrenen Bühne als Studie über die Banalität des Alltags. Wiederkehrende Verrichtungen und Reste von Kommunikation zweier Paare, die sich nichts mehr zu sagen haben, werden von einem mitagierenden Kammerensemble sparsam, aber sehr sprechend untermalt, kommentiert und kontrapunktiert, wozu auch ein im Publikum sitzender kleiner Chor beiträgt. Diese fein austarierten, vertrackten Verschränkungen setzen die Sängerdarsteller sowie die Musikerinnen des Opera Lab Berlin virtuos, detailgenau und mit viel Sinn für den bisweilen durchblitzenden Humor um. Den Höhepunkt bildet das Geplapper eines Abendessens, zu dem Inamori eine etwas vordergründige, süffig-barockisierende Tafelmusik kredenzt, die in fast unverschämtem Schönklang die Forderung einlöst: „We do have some fucking music!“
Hier wurde das Festival-Motto „Privatsache“ ganz konventionell auf die Ausleuchtung eines Beziehungsstatus gemünzt. Doch berührt das Thema weit mehr Facetten und Nervenpunkte unseres gläsernen Zeitalters: „Die Grenze von privatem und öffentlichem Leben ist heute durchlässig“, betonte Manos Tsangaris schon im Vorfeld der Biennale und Daniel Ott ergänzte: „Beide Sphären stören sich gegenseitig und eröffnen einen assoziationsreichen Rahmen.“ Es ist unbedingt als Verdienst der beiden künstlerischen Leiter anzusehen, dass sich die Teams der insgesamt 15 Neuproduktionen dem Thema über einen langen Zeitraum als ‚work in progress‘ annähern konnten. So waren die Ergebnisse, die im Rahmen des Festivals quer durch München uraufgeführt wurden, divers wie das Thema selbst.
Um die Privatheit der eigenen Familiengeschichte etwa geht es in „Alles klappt“ von Ondrej Adámek (Musik, Leitung) und Katharina Schmitt (Text, Regie). Das Stück beruht auf Archivmaterial des jüdischen Museums Prag und auf Briefen und Postkarten aus dem Familienbesitz des Komponisten: „Von einem Propagandakatalog“, so Adámek, „mit dem mein jüdischer Großvater von 1943 bis 1945 die Umsiedlungen beworben hat, bis zu seinen Postkarten, die er nach seiner Deportation aus Theresienstadt schrieb.“ Zum Sprechen wird all dies von sechs herausragenden Sängern gebracht, die sich – vielfarbig gestützt von zwei brillanten Perkussionisten – der Dokumente zunächst mit distanziertem Bürokratismus und einer entsprechend rhythmisch-mechanischen Silbeneinteilung annehmen. Nach und nach geben die Archivare angesichts der persönlichen Schicksale ihre Geschäftsmäßigkeit jedoch auf und lassen sich zu berührender Vokalemphase hinreißen. In einer musikalisch-szenisch derart perfekt getimten Umsetzung ist das vielleicht kein wagemutiges, ästhetische Grenzbereiche erkundendes Werk – dafür ohne Anbiederung unmittelbar erfahrbar.
Auch Davide Carnevali widmete sich mit seinem Ein-Mann-Sprechtheater einem historischen Thema von seltsam berührender Privatheit: „Ein Porträt des Künstlers als Toter“ erzählt eine scheinbar authentische Geschichte rund um ein Opfer der argentinischen Militärdiktatur. „Das Schweigen der Toten ist leichter zu ertragen als das der Desaparecidos“, heißt es im Text. Die Produktion könnte durchaus auch als reines Sprechtheater funktionieren und wird doch durch die Anreicherung mit Franco Bridarollis strenger, gleichwohl atmosphärisch wirksamer Klaviermusik zu einem Musiktheater von bedrückender Dichte. Das liegt vor allem an dem angeblich seine eigenen Erlebnisse schildernden Daniele Pintaudi, der als Schauspieler und Pianist brillant zwischen Nähe und Distanz zu changieren weiß. Am Ende muss der Zuschauer selbst mit dem schalen Geschmack einer Betroffenheit klarkommen, die sich als eine erschwindelte herausgestellt hat.
Musiktheatrales Floating
Neben diesen doch eindeutig dem Musiktheater zuzurechnenden Werken näherten sich viele der jungen Künstlerkollektive dem Thema „Privatsache“ mit installativen Arbeiten und eher kryptisch-assoziativ an. Die mit Klangaktionen etwas dürftig angereicherten Gänge durch die Maxvorstadt enden bei „Bubble >3“ (Lam Lai, Wilmer Chan und andere) ohne erkennbaren Zusammenhang in einem Raum, der von einem transparenten, drei Darsteller einschließenden Ballon und „Drone“-Klängen fast vollständig ausgefüllt wird. In Clara Iannot-tas „skull ark, upturned with no mast“ – inspiriert von einem Bericht über zwei in einem Gießkannenschwamm isoliert aufwachsenden Garnelen – wird eine ingeniöse Installation aus durcheinander gestapelten Klang- und LED-Stäben bespielt. Allerdings tragen die wenig räumliche Tiefe erzeugenden elektronischen Klänge, der minimale Einsatz der beiden Sängerinnen (Neue Vocalsolisten) und die sparsamen Lichteffekte nicht über die Strecke von 45 Minuten. Das gilt auch für Marek Poliks’ „Interdictor“, eine zwischen zwei Sonnenwinden tönende und von einem Raumfahrer mehr oder weniger souverän gesteuerte „technoide Skulptur“, die musikalisch kaum zu erwähnen wäre.
Das gilt leider auch für „regno della musica – TERRA“ von Saskia Bladt (Komposition) und Anna-Sofie Lugmeier (Regie): Die neuntägige Aktion in der Galerie LOVAAS ist eine sich entwickelnde Produktion mit den Bestandteilen „Gespräch, Konzert, Essen, Lektüre, Daphne, Fußbad, Kindergeburtstag, Musik, Stille, Diskussion, Oper, Schubertiade, Zeit für Kinder“. Von installativen Klangobjekten hat man sich während der Festivalwoche über den Gesang und einen Tanztag bis zur Wellness vorgetastet. Tatsächlich ist ein wohltemperiertes Fußbad zu einem geradezu klassischen Hauskonzert mit Geige und Klavier zweifelsfrei ein angenehmes Erlebnis – was es aber im Rahmen der Münchener Biennale für neues Musiktheater zu suchen hat, wird an keiner Stelle wirklich klar. Anders das „Bathtube Memory Project“: Eleftherios Veniadis (Komposition) und Eleni Efthimiou (Regie) bieten Einzelbesuchern eine hygienisch einwandfreie Badewanne, um längst verloren geglaubte Bereiche des kindlichen Unterbewusstseins hervorzurufen. Das gelingt zum einen durch das körperwarme (Frucht-)Wasser, dann auch durch das griechische Wiegenlied der von einer Gambe begleiteten sanftstimmlichen Sängerinnen und schließlich durch die surrealen Projektionen, die über den weißen, die freistehende Wanne umschließenden Kokon flimmern: musiktheatrales Floating der avancierten Art!
Grenzerfahrungen, Rätsel
Ein schönes Erlebnis mit situativer Grenzerfahrung sind auch die „Königlichen Membranwerke“ von Miika Hyytiäinens und Nicolas Kuhn, eine avantgardistische Kaffeefahrt an und über den Starnberger See. Per Doppeldeckerbus geht es zunächst an prunkvollen Anwesen vorbei hinauf zur Villa Waldberta, wo der Besucher mit Wein-Eis am Stiel empfangen wird und eine Einverständniserklärung in einen Handrekorder abgeben muss: „I, XY, agree to the data policy of NOS“. Nachdem man die doch rätselhaft bleibende Unternehmensphilosophie der „Nomictic Solutions“ zu den „Secrets of Voice and floating Data“ zu Land und zu Schiff in durchaus bemerkenswerter Musik und eindringlichen Gesangspassagen erfahren hat, werden zum Schluss die Aufnahmen als Collage über den Buslautsprecher gespielt. Hier kann man von einer gelungenen musiktheatralen und situativen Grenz-erfahrung sprechen, was leider nicht für Trond Reinholdtsens „München “Ø“ Trilogie“gilt: Durch drei neodadaistisch überbordende Räume führt diese völlig durchgeknallte „Neo-Hippie-Interventionistische-Anti-Internet-Peripherie-Welttournee-Roadshow und Meta-Opr“, bei der man nach fast vier Stunden nur noch „ØØØ“ und „ÆÆÆ“ rufen kann, teils vor Lachen, teils vor Ratlosigkeit.
Subtiler und eleganter beschäftigt sich Ruedi Häusermanns „Tonhalle“ mit der Aufführungssituation. Seine augenzwinkernd vor das Nationaltheater gestellte Miniatur-Staatsoper bietet lediglich Platz für eine Handvoll Besucher sowie das Henosode-Quartett (mit zwei Bratschen) und Conferencier Thomas Douglas („Nein, Sie können hier nicht parken!“). Mit fein-ironischem Humor erwehren sich die Akteure der täuschend echt eingespielten Umweltgeräusche und spielen durchaus virtuos mit dem minimalen Klangraum. Die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben werden in „Up Close and Personal“ vermischt, indem Kaj Duncan David den Countertenor und Performer Daniel Gloger sich selbst spielen lässt. Lecker ist der gut gemixte Drink, die Soundkulisse ist angenehm, wie überhaupt der Abend nett – aber kann das ein Ziel des neuen Musiktheaters sein? Die Frage muss sich auch Frederik Neyrinck stellen lassen: Sein Publikum ist eingeladen, der „Nachlassversteigerung“ eines verstorbenen Künstlers und Stalkers beizuwohnen. In der Wohnung lässt es sich gut stöbern, während die als Besucher eingeschleusten Interpreten eine durchaus vielversprechende Geräuschkulisse produzieren. Wie das allerdings mit dem zweiten Teil zusammenhängt, in dem man einem Trio aus den Fenstern des ersten Stocks lauscht, während Projektionen von enormen Klägersummen und Fukushima-Kosten über die Hauswand flimmern? Ein Rätsel.
Schließlich darf bei einem ambitionierten Festival zum Thema Privatsache im 21. Jahrhundert der mediale Aspekt nicht fehlen. Zu nennen ist hier zum einen der Biennale-Beitrag der Hochschule für Musik und Theater München: Die von Waltraud Lehner inszenierte Produktion „liminal space“ kann mit ihren sieben Kurzopern als musiktheatrale Serie gelten, die sich um paranormale Erfahrungen in der digitalen Welt und um die Verhandlung von Öffentlichkeit im Zeitalter entgrenzter Privatheit drehen. Geschickt sind die Cliffhanger zwischen den einzelnen Szenen gesetzt, die Themen sind relevant und viele Ideen gut. Allerdings stößt das vollständige Fehlen von Nachwuchskomponistinnen seltsam auf und „liminal space“ ist im Kontext der Biennale-Beiträge doch deutlich als Studentenprojekt erkennbar. Was nicht die Leistung der Solisten und des ensemble oktopus schmälern soll, das unter der engagierten Leitung von Jan Müller-Wieland im versenkten Orchestergraben unter einer Plexiglasscheibe spielt.
Some fucking Music?
Und doch und natürlich ist die Leistung des Klangforum Wien in „Third Space“ eine andere Hausnummer. Hier wird das Publikum mit der Differenz von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit im Tanztheater konfrontiert: In den ersten 25 Minuten sieht das Publikum lediglich den ihm zugewandten Dirigenten Bas Wiegers, während die von Daniel Linehan choreografierten Tänzer nur über Videoeinspielungen auf Leinwand präsent sind. Als der Vorhang fällt, wird der Blick auf die Bühne frei. Einige Zuschauer werden auf die dort aufgestellten Tribünen gebeten und erleben den scheinbar intuitiven Tanz sowie Stefan Prins’ energetische, geräuschhaft verschmutzte Ensemblemusik durch die äußerst agilen Mitglieder des Klangforum Wien nun hautnah. Leider wird danach die Erwartung auf eine ganz neue, aus den gespiegelten Erfahrungen eine Konsequenz ziehende szenisch-musikalische Konstellation im dritten Teil enttäuscht.
Und hatte die Münchener Biennale für neues Musiktheater nun 2018 „some fucking music“ zu bieten? Ja, nein, vielleicht … jein. Viel relevanter als die Antwort ist die Tatsache, dass Daniel Ott und Manos Tsangaris die Frage, was Musiktheater im 21. Jahrhundert sein kann, so deutungsoffen gestellt haben.