Luigi Cherubinis Oper „Les Abencérages“ (Paris 1813) ist eine anspruchsvolle wie harte Übung in Sachen Musikgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts. Zur konzertanten Aufführung im Budapester Konzertsaal MüPa gab es weder Maskenpflicht noch Kontrollen der Impfbestätigung. Sie wurde am 9. März ein Höhepunkt des Barock-Zyklus mit Konzerten mit Emöke Baráth, Philippe Jaroussky und Joyce DiDonato.
Nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Pariser Repertoire des 18. Jahrhunderts führten György Vashegyi, Orfeo Orchestra und Purcell Choir eine Oper des frühen 19. Jahrhunderts auf. Trotz intensiver Zusammenarbeit der im Herbst 2021 gegründeten Stiftung Haydneum mit dem Forschungszentrum Palazzetto Bru Zane konnte diese ambitionierte Aufführung die enormen Schwierigkeiten der problematischen Partitur nicht vergessen machen. Eine CD-Einspielung wird folgen.
Mit ehrlicher Anerkennung für die musikalische Gesamtleistung applaudierte das Publikum im leider nicht sonderlich gut gefüllten MüPa. Doch echte Begeisterung klingt anders. Dem konterte der Dirigent György Vashegyi mit einer geschickten Schlusspointe. Aus der in dieser konzertanten Aufführung gestrichenen 20-minütigen Ballettmusik brachte er ein Viertel als Zugabe – und der Bann war gebrochen. Die vom Kompositionsschwergewicht Cherubini mit spanischem Kolorit aufgefrischte Nummer brachte endlich, was man neben Sensationsfunden aus Noten von Palazzetto Bru Zane erwartet: Delikate Reize, duftige Instrumentalsoli, den Geschmack von Luxus und Erlesenheit. Diese Zugabe macht die Vorliebe von Centre de musique baroque de Versailles und zunehmend Palazzetto Bru Zane für György Vashegyi, Orfeo Orchestra und Purcell Choir verständlich. Für den Forschungsschwerpunkt des Haydneum – die Erschließung ungarischer Notenbestände von der Spätrenaissance bis Anfang des 19. Jahrhunderts – bedeutete „Les Abencérages“ einen großzügig weiten Schlenker nach Westen.
Es war nur eine Frage der Zeit, dass man in dieser Konstellation von Forschung, Edition und Referenzaufführungen auf Luigi Cherubini (1760-1842) kommen musste. Keine von dessen Opern konnte sich bis in die Gegenwart halten, ausgenommen „Médée“ und allenfalls noch „Les deux journées“ (Der Wasserträger). Sogar „Médée“ hat im internationalen Repertoire nur Nischenkontinuität durch Sängerinnen, die sich dem Vergleich mit dem Callas-Mythos in dieser Partie auszusetzen trauen – nicht aufgrund eines echten Favoritstücks. Mit zwei Einspielungen – eine unter Carlo Maria Giulini (1956), die andere unter Peter Maag (1975) – führt das 1813 in Anwesenheit von Napoléon uraufgeführte und in einer Bearbeitung durch Gaspare Spontini 1828 an der Berliner Hofoper nachgespielte Opus „Les Abencérages“ ein Schattendasein. Trotz der Ambitionen betreffend Aufführungsmaterial, stimmige Besetzung und historisch informierte Aufführungspraxis brach man auch in Budapest keine Lanze für Almanzor den Abencerragen und die liebesbeständige Noraïme. Cherubinis Oper ist an manchen Stellen ausladend und mitunter trocken. Trotz meisterhafter Faktur tragen die melodischen Einfälle oft nicht einmal bis zum Ende der jeweiligen Musiknummer.
Anaïs Constans machte als kurz vor der christlichen Rückeroberung Granadas doch noch glücklich verheiratete Maurenprinzessin Noraïme einen hervorragenden Eindruck. So weit von Beethovens Leonore und Cherubinis eigener „Médée“ liegt die Partie nicht entfernt. Constans hat dafür einen smaragdartigen, hellen Sopran mit Höhenkondition und Ausdauer. Ansätze zur Emotionalisierung werden zunichte, weil Cherubini ständig Finessen offeriert, die nur mit Technik und klarem Kopf zu meistern sind. Ein Ausbreiten der Gesangsflügel zum belcantesken Gleitflug ist von Cherubini so gut wie nie vorgesehen. Edgaras Montvidas meistert die anstrengende Partie des Almanzor. Sein schönes Material klingt hier sogar etwas spröde. Der Italiener Cherubini und Direktor des Pariser Konservatoriums lässt kaum zu, dass die Stimmen richtig zum Blühen und Schwelgen kommen. Alles wirkt kalkuliert. Zudem ist Cherubini – untypisch für die Entstehungszeit – ein hartnäckiger Koloraturenverächter.
In der anstrengenden Komposition steckt also das grundsätzliche vokale Dilemma der Oper. Der erste Tenor und der erste Sopran werden ständig in hoch gelegene Kantabilität getrieben. Daneben gibt es ausgedehnte Passagen, die über dem vielstimmig aufgefächerten Orchestersatz eine gleichmäßig intensive wie undankbare Konditionsstruktur erfordern. Es liegt nicht an Edgaras Montvidas, dass dessen Part weniger Interesse erweckt als der Noraïmes. Leider bleibt er hier trotz seiner Vorzüge als physischer und moralischer Stimmheld also eine recht ambivalente Erscheinung.
In diesem Fall steckt die musikalische Leitung etwas zu sehr noch im 18. Jahrhundert. Wenn es um die Begleitung rezitativischer Szenen mit größerer Instrumentalbesetzung und feinen Details auf fülligem Atem geht, macht György Vashegyi alles großartig. Doch „Les Abencérages“ ist das frühe Wetterleuchten der Großen Oper Rossinis und Meyerbeers. Im dramatischen Sog sind demzufolge Zupacken und manchmal sogar artistische Plakativität gefordert. Weil Cherubini in seinen vielstimmig verkopften Sätzen oft nur schwer zum passgenauen Ende findet, müsste die musikalische Leitung durch künstliche Zäsuren dramaturgisch aktiv werden. Das fand zu wenig statt. Dieses respektvoll gemeinte Versäumnis wurde zu einem gewaltigen Nachteil für diesen Belebungsversuch von „Les Abencérages“. Der Purcell Choir agierte genau richtig zwischen schlank gefasstem Pathos und Parfüm. Unter den Mauren befanden sich an diesem Abend nur elegante Soldaten und Höflinge. Die Frauenchöre verführten zu weichen Haremsphantasien. Trotzdem navigierten alle in aussichtsloser Mission, weil es im Cherubini-Universum zu viele wandernde Schwarze Löcher gibt.
Zwangsläufig kommt der Bariton Thomas Dolié als Le Vizir am besten zum Zug. Dolié hat die richtige Intuition für das, was die meisten anderen Solisten trotz Bemühen und Überlegen nicht ganz erreichen. Mit vermeintlicher Natürlichkeit meisterte er die vertrackten Anforderungen. Natürlich gibt es gegen Almanzor, der trotz seiner Siege für den Verlust der Schlachtflagge mit Verbannung bestraft wird und nach Widerständen aus den eigenen islamischen Reihen doch mit Noraïme vereinigt wird, einen ganzen Pulk von Gegnern, Für- und Widersprechern. Cherubini und sein Textdichter Etienne de Jouy lassen diese meist in Ensembles auftreten und zu musikalischen Kleinbanden zusammenrotten. Artavazd Sargsyan (Gozalve), Philippe-Nicolas Martin (Kaled), Tomislav Lavoie (Alamir), Douglas Williams (Abderam), Lorant Najbauer (Octaïr / Le Héraut d’armes) erfüllen – mit Ágnes Pintér (Egilone) in der zweiten Frauensolopartie – ihre Aufgaben auf erwartbarer Qualitätsstufe sonor, nobel und wenig extrovertiert. Diese Distinktion der mittleren Partien rundet die hohe musikalische Qualität ab. Dass Cherubinis Oper in der konzertanten Form keine Begeisterungsfeuerwerke auslöste, sollte zu denken geben. Für alle Mitwirkenden war der Abend aber nicht verloren. Er wurde zur anspruchsvollen Etüde für weitere Entdeckungen von Halévy und Zeitgenossen, die hoffentlich bald folgen werden.