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Foto: Iko Freese / drama-berlin.de
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Radikal modern? – Radikal altbacken! – „La Traviata“ an der Komischen Oper Berlin

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Als „Klassiker – radikal modern“ hatte die Komische Oper Berlin Giuseppe Verdis einzige aktuelle, in seiner Gegenwart spielende Oper über Leben und Tod einer Edelkurtisane angekündigt. Aber die Inszenierung von Nicola Raab verschenkt die sich in Beliebigkeiten nicht vermittelnde Handlung und erzeugt einen vergleichsweise radikal altbackenen Eindruck, dem leider auch die musikalische Seite nichts entgegenzusetzen vermag, außer Lautstärke. Peter P. Pachl ist enttäuscht.

Mit Einschnitten, die jedes Maß langer Generalpausen überschreiten, folgt der musikalische Leiter Ainārs Rubiķis der nicht sonderlich originellen optischen Erzählweise der in dieser Spielzeit einzigen Regisseurin an der Komischen Oper. Raab schafft für die in Francesco Maria Piaves Libretto nach dem Roman „La Dame aux camélias“ von Alexandre Dumas jr. in den Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts in Paris angesiedelte Handlung einen heutigen Rahmen. Die Edelprostituierte Violetta Valéry ist hier eine junge Frau, die vom Internet-Sex vor der Webcam ihres Home-Office lebt. Sie kommt mit einem fatalen Lungenbefund und einem „End-of-Live-Kit“ nach Hause und denkt sich nun hinein ins Leben der berühmten Kameliendame Violetta – in eine Welt all zu platter Biedermeier-Kostüme von Annemarie Woods. Bühnenbildnerin Madeleine Boyd hat für das zumeist sehr statische Geschehen zwischen den steinernen Auftrittsgassen einer Werkshalle eine als Operntopos sattsam bekannte Milchglaswand beigesteuert; auf deren Rückseite werden sichtbar die Scheiben geputzt, Scheinwerfer verschoben, oder Körper in Unterwäsche schmiegen sich daran. Mehrfach senkt sich ein Stofffetzen aus dem Schnürboden, als Projektionsfläche für Sequenzen aus dem Stummfilm von 1921.

Verdis Gegenwartsgeschichte „La Traviata“ wurde schon häufiger in unsere Gegenwart versetzt; bereits 2013 in Halle wurde die Oper mit dem Einsatz von Laptop und die Ebene des Briefromans mit SMS-Botschaften auf Handys erzählt. In der Berliner Neuinszenierung an der Komischen Oper, die der an diesem Haus vorangegangenen Regiearbeit von Hans Neuenfels keine eigene Dimension entgegenzustellen vermag, dienen Smartphones für Selfies, auch unter dem Reifrock, zur Übertragung von Körperdetails. An einer Reihe von Computerbildschirmen mit Kameras (die zunächst wie beleuchtete Notenpulte wirken, so als handele es sich um eine „halbszenische Aufführung“) „arbeiten“ Frauen als „Zingari“ in einem digitalen Sexcenter, wo auch die Herren den Blick auf ihre Handys nur einmal unterbrechen – dann, als ein Liveakt auf ihrer Arbeitstafel stattfindet.

Doch Violetta schreibt in diesem Ambiente den Abschiedsbrief an ihren Geliebten Alfredo ganz klassisch, übergroß auf eine Reihe von Briefbögen. Der Sprung zwischen heutiger Wirklichkeit und Dumas’-/Verdischer Traumwelt ist handwerklich unzufriedenstellend gelöst, nur durch die Diskrepanz der Kostüme angedeutet, insbesondere für die Freundin/Dienerin Annina (Marta Milka) wie auch beim statuarischen Dottore Grenvil (Philipp Meierhöfer).

Selten war der von David Cavelius einstudierte Chor szenisch so unpräzise zu erleben wie hier beim raschen Wechsel von Bewegung und Stillstand im ersten Akt. Und wenn der prachtvolle vokale Klangkörper an der Rampe positioniert seinen eindrucksvollsten Moment erzielt, so erzählt das Vieles über die Gesamtwirkung dieser Produktion, in der es akustisch offenbar primär darum geht, die himmelschreiende Ungerechtigkeit der Menschenschicksale (aber leider nicht die einer Traviata, also einer gesellschaftlich Abgeirrten), wirklich himmelschreiend herauszubrüllen.

Dabei geht es in dieser Produktion allerdings hörbar um eine andere Seuche als die der TBC, nämlich die des Volumens. Eine erste Infektion übertriebener Lautstärke wurde bereits ausgelöst durch die Titelrollen-Interpretin selbst. Vera-Lotte Boecker trachtet an diesem Abend Lieblichkeit und Charisma der allseits begehrten Frau durch Volumen zu ersetzen und wird darin zusätzlich angeheizt durch den für sie imaginären, sich nur im Fortissimo gefallenden Tenor Ivan Magrì als Alfredo Germont. Doch springt der Virus auch über auf die anderen Nebenrollen – und leider auch auf Günter Pappendell als einen trefflich intonierenden und artikulierenden Vater Giorgio Germont; gleichwohl wird das Fehlen einer Deutung gerade bei diesem Bühnenkünstler überdeutlich, wenn die Figur reduziert ist auf Vorwärts- und Rückwärtsschritte sowie eine ins Leere gehende, gleichwohl den Sohn zu Boden drückende Ohrfeige, die auch für (wohl unbeabsichtigte) Lacher im Publikum sorgte. Im Wettstreit der Lautstärke-Entwicklung war auch das Orchester durch dessen Leiter kaum zu bremsen.

Beim Umbau zum zweiten Akt ist ein elektronisches Brummen, wie von Flugzeugen, zu vernehmen, bevor dann sicht- und vor allem hörbar eine Unmenge von Herbstlaub auf den Bühnenboden kracht. Beim Umbau zum Schlussakt erweist sich diese akustische Ebene als eine bewusste Zutat – und einzige echte Innovation: eine elektronische Improvisation über Themen aus der „Traviata“, wie die Begleitmusik zu einem Videoadvertising; doch bleibt der dafür verantwortliche Künstler im Programmheft unbenannt.

Die Neuinszenierung von Verdis Melodramma in drei Akten aus dem Jahre 1853 wetteifert offenbar musikalisch mit den „Traviata“-Produktionen im Repertoire der beiden anderen Berliner Opernhäuser, und sie hat – vermutlich zugunsten besserer Casting-Möglichkeiten – auch für diese Spielvorlage das frühere Alleinstellungsmerkmal der Komischen Oper Berlin, das Singen in Landessprache, aufgegeben. Gerade diese Neuinszenierung von „La Traviata“ erschwert dem Publikum das Verständnis der Nebenhandlungen und Chorbilder – zugleich aber erleichtert es die Akzeptanz einer sich vom Original weit entfernenden, szenisch schwer nachvollziehbaren Umsetzung.

Hinsichtlich des Themas Digitalisierung ist es womöglich bezeichnend, dass das Beste an dieser neuen Produktion der wirklich effektvoll geschnittene Trailer auf der Homepage dieser Bühne ist.

Die zweite Aufführung, eine knappe Woche nach der Premiere, war ausverkauft und – unbeeinflusst von Inhalt und Form und einer fragwürdigen Langzeitwirkungs-Todesspitze der Titelheldin – galt offenbar auch beim Applaus das Motto „je lauter, desto besser!“.

  • Weitere Aufführungen: 13., 17., 20. 23., 28. Dezember, 10., 28. Januar, 1., 12., 22. Februar, 1. und 4. Juli 2019

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