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Unser Bild zeigt den Perkussionisten Christian Dierstein bei der Aufführung von Andres Stück „S2 für Schlagzeug“ im Märkischen Museum. Foto: WDR Köln
Unser Bild zeigt den Perkussionisten Christian Dierstein bei der Aufführung von Andres Stück „S2 für Schlagzeug“ im Märkischen Museum. Foto: WDR Köln
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Ränder, Fehler, Flüstertöne

Untertitel
Die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ stellen Fragen
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Die erste Frage, die diesem Festival-Jahrgang galt, war außermusikalischer Natur: Was eigentlich wird genau gefeiert? – Die Presse- und Öffentlichkeitsabteilung des (haupt)veranstaltenden Westdeutschen Rundfunks war sich sicher: „50 Jahre Wittener Tage für neue Kammermusik“. Was eine ziemlich selbstbewusste Überschrift war zu einer Vorankündigung, die dann lus-tigerweise so weiterging: „Fehler im System, folgenschwere Tippfehler und Versehen, die Veränderung bringen – bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik geht es im Jubiläumsjahr um ‚produktive Fehler‘.“

Was stimmte – und zwar ging es darum gleich doppelt. Zum einen war das mit dem „produktiven Fehler“ tatsächlich das Motto, das sich Harry Vogt ausgedacht und in lockeren Schleifen um sein Programm geflochten hatte. Zum anderen hielt sich der Eindruck, dass es ihm in anderer Weise, ganz ungewollt, wieder auf die Füße fiel. Der Grund dafür war schlicht die Unsicherheit darüber, wie heuer in Witten eigentlich zu rechnen ist. Unstrittig zunächst, was die WDR-Pressemeldung für das letzte April-Wochenende ankündigte: „Zum 50. Mal finden die Wittener Tage für neue Kammermusik statt.“ Nur, daraus „50 Jahre“ abzuleiten, dies war ein klassischer Fehlschluss, was auch ohne weiteres aus der vom Sender selbst erstellten Festival-Chronologie hervorging: „1969 firmiert das Festival erstmals unter seinem jetzigen Namen.“ (Frank Hilberg; Harry Vogt [Hg.]: Kammerton der Gegenwart. Wittener Tage für neue Kammermusik, Wolke Verlag 2009, S. 178) Heißt: „50 Jahre Wittener Tage für neue Kammermusik“ – die werden erst im kommenden Jahr gefeiert, zur dann 51. Ausgabe. Ein rundes Jubiläum, wofür die künstlerische Leitung übrigens bereits jetzt die Weichen stellt. Eine erste Publikation, ein Essay-Band „Kammermusik der Gegenwart“, wurde am Rande des Festivals vorgestellt.

Randbemerkung

Apropos. Im (Beinahe-)Jubiläumsjahr waren es tatsächlich die „Ränder“, die das verstärkte Interesse auf sich zogen, weswegen eine Blütenlese auch mit dem Bemerken beginnen darf, dass das schönste Konzert dieser 50. Festival-Ausgabe außerhalb der eigentlich tonangebenden Hauptkonzerte zu erleben war. Gespielt hat es Jörg Widmann. – Kann man so nicht sagen? Kunst ist immer Geschmackssache? Einverstanden. Nur, dass wir dann darauf bestehen müssen, dass es von besonders gutem Kunstgeschmack zeugt, ein Mark-Andre-Konzert für Klarinette und Elektronik zu spielen, das nach allem klang, nur nicht nach Neuer Musik. Womit hier zunächst nur ein Höreindruck wiedergegeben, kein versteckter Rüffel ausgeteilt sei. Dafür präsentierten sich die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ auch in der Ausgabe 2018 doch zu sehr wie wir sie kennen, wie wir sie gewohnt sind: als dicht gepacktes verlängertes Wochenende von erhöhter Ereignisdichte. Zu allein sechs Hauptkonzerten mit fünfzehn Einzelwerken in Ur- und Erstaufführung kamen ein „Porträt-Konzert“, ein „Newcomer-Konzert“, ein Konzert namens „Synthetic Skin“ („elastische Kollision von akustischem Spiel und Tonbandgerät“) sowie ein „Flüsterndes Haus“ mit allerlei performativen oder auch Klanginstallationen, konzertanten Darbietungen. Ganz schön viel Kunst, die im Wittener Stadtraum zwischen Saalbau, Haus Witten, Museum und Rudolf-Steiner-Schule im Verlauf eines Wochenendes akkumulierte, die Wahrnehmungsbereitschaft der Beteiligten testete.

Wer traut sich da noch zu, den Überblick zu behalten? Und wer traut sich, dieses, jenes hervorzuheben? Wobei, es kommt tatsächlich noch dichter, ist man in der Auflistung der Ereignisse damit ja noch längst nicht ans Ende gekommen. Witten – das ist nun doch auch ein Festival, das an den Rändern stattfindet, was an die psychoanalytische Arbeitshypothese denken lässt, wonach die Konflikte des Zentrums an der Peripherie aus-agiert werden.

Kulturreflexion

Im Rahmen der Kammermusiktage vorzugsweise als musikhochschulgestützte „Probenbesuche, Vorträge, Workshops, Gespräche“ („Labor Witten“) oder/und in Tagungsform. Letzteres in diesem Jahr zu einem Thema, das nun tatsächlich so genial formuliert war, dass es, nicht anders wie das Festival als Ganzes, aus allen Fugen respektive Rändern zu platzen schien. Wem würde schon zu einer Vorgabe wie „Es falsch machen – Der Fehler in der Neuen Musik“ nichts einfallen? Ein international besetztes Referentenpodium zeigte sich denn auch in Reflexionslaune: „Cut up, Bricolage, Pastiche“, „Flawed execution of high-risk elements“, „Der Rotstift meiner feixenden Frau Mutter Betrieb“, so die munter vorgetragenen Themen der von der Fakultät für „Kulturreflexion der Universität Witten/Herdecke – Studium fundamentale“ mitorganisierten Tagung.

Worum es dabei ging? Nicht um Vordergründiges. Nicht um Spielfehler. Nicht um die damit verbundenen Ängste. Nicht um Superdirigenten, die hören wie die sprichwörtlichen Luchse. („Zweite Geige, drittes Pult links, Takt 50, das Fis deutlich zu tief!“) Nein, es ging nicht um Kinkerlitzchen, es ging um das, was man die produktive Ernte des Fehlers nennen könnte. Alain Franco, der belgische Dirigent, Komponist, Tanzdramaturg, Bühnenpartner von Anne Teresa De Keersmaeker und Meg Stuart, extemporierte aus dem Konzept, öffnete erfreulich den Horizont jenseits einer Neuen Musik. Ob nun der Sprechgesang in Schönbergs „Pierrot Lunaire“, die Fuge in Beethovens Hammerklaviersonate, es gebe zahlreiche Beispiele in der Musik, die mit Unsicherheit, mit Angst verbunden seien: Was soll ich nur damit machen? Francos Empfehlung lief auf eine Umfunktionierung des Tagungsthemas hinaus. Man möge es einmal so schreiben: „Es falsch: MACHEN!“ Oder, noch klarer beziehungsweise dialektisch-listiger: Besser als einen Fehler zu finden, sei es, einen Fehler zu faken! – Das war schon mal sehr gut gesagt. Doch es kam noch mehr: In Gordon Kampe durfte man dabei einen Referenten kennenlernen, der auf der Klaviatur eines solchen Themas auch als Komponist zu spielen gelernt hat. Man hörte es sehr gut an seinem Stück „Fat Finger error“ für Kammerorchester und Zuspielungen, das süffig-klangmalerisch illustrierte, wie es klingt, wenn Fehler passieren, Lücken auftreten, Dirigenten Wutausbrüche haben. Auch als Vortragender wusste Gordon Kampe produktive Fehlerquellen aufzuspießen, die freilich erst uns als solche erscheinen: Aufgemotzte Spätromantik-Instrumentierungen der Matthäus-Passion, orchestral aufgeblähte Bach-Präludien bei britischen Proms. Mit anderen Worten: Exzessives Übermalen also, gefakte Fehler, die aber Spaß machen! – Man ging geschärft, was „Ränder“ angeht und fand sich, auf erfrischende Weise stimuliert, informiert, in einer Programmidee wieder, mit der die Witten-Festival-Dramaturgie ziemlich allein in der Festivallandschaft steht, dem

Newcomer-Konzert

Die Rahmenbedingungen, optimal: Mit den Musikern der „Internationale Ensemble Modern Akademie“ standen kompetente Ausführende auf dem Podium, dahinter bewährte Supervisoren, bewährte Kräfte auf dem Feld von Komposition und Interpretation. Dazu viel mediale und sonstige Aufmerksamkeit, ablesbar an einem bis auf den letzten Platz besetzten großen Saal im Märkischen Museum. Das Ergebnis, einerseits-andererseits. Sicherlich ließ sich der Eindruck gewinnen, dass für den Neue-Musik-Nachwuchs in Witten und anderswo gesorgt ist. Dann aber schien es doch auch so, als ob sich in den Köpfen der heranwachsenden Komponisten-Generation ein schon stark konturiertes Bild dessen festgesetzt, ausgeformt hat, was Neue Musik ist respektive wem und was man nachzueifern hat, um ihm gerecht zu werden, vielleicht auch, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, was Jurymitglied Johannes Schöllhorn diplomatisch so umschrieb, dass es interessant sei festzustellen, „mit welchen Entwicklungsprozessen die Kompositions-Studierenden zu kämpfen hätten“. Die zur Aufführung gebrachten 8’-Kompositionen konfrontierten jedenfalls mit Dejà-vus, zurückgehend bis zu den atmosphärischen Farbvaleurs des beginnenden 20. Jahrhunderts, was vielleicht noch als eine Art geheime Hommage im Debussy-Jahr zu verstehen gewesen sein mochte. Eigentümlich freilich auch das zu Gehör gebrachte Vertrauen in die kreative Kraft des Konzertinstruments Klavier, also des Halbtons als Ausgangspunkt systematischer Musikgewinnung. – Man ging in Gedanken.

Als man zwei, drei Konzerte später wiederkam ins Märkische Museum, dieser kunstoffen-diskursivfreudigen Wittener Kulturinstitution, trat man in ein „Flüsterndes Haus“, mit anderen Worten in eine weitere Station im Parcours der Witten-Ränder.

Dasein, dabei sein

Klar, „Flüsterndes Haus“, das war natürlich der Deckname für die wittenerprobte Abteilung „Klanginstallation“. Im Museumsgarten eine Art virtuelles, Geräusche absonderndes Lagerfeuer (Chelsea Leventhal: „Psychoanalysis of Fire“), im Foyer eine von der Geigerin Karin Hellqvist auf hohem Podest präsentierte Mischung aus transkribierten und hinzugefügten Original-Vogelstimmen (Carola Bauckholt: „Doppelbelichtung“ für Violine und Elektronik), im Keller des Hauses eine Videoinstallation mit nackten Rückenansichten für je einen ausführenden Perkussionisten, Akkordeonisten, Pianisten, Cellisten (Katharina Rosenberger: „quartet. bodies in performance“). Und im Obergeschoss? Nein, keine weitere „Klanginstallation“, wie fälschlicherweise im Programmheft ausgewiesen stand.

Mit „… selig sind …“ für Klarinette und Elektronik des diesjährigen Wittener Porträtkomponisten Mark Andre, diesem wachen Geist der Szene, kam es zu einem halbstündigen Drahtseilakt-Musizieren mit Jörg Widmann als starkem Solisten. Wobei sich die allgemeine Begeisterung aus der Papierform des Stückes noch am wenigsten erschließen konnte. „Zwischenräume des Entschwindens“ war zunächst nicht mehr als einer dieser von Andre hinlänglich bekannten kryptischen Untertitel. Es steckt insofern eine Paradoxie darin als es sich hierbei um ein Werk handelte, das das DASEIN, das ERSCHEINEN, eben nicht das „Verschwinden“ von Musik feiert.

Was dem Komponisten dazu verhilft, ist seine bekannt gewordene Liebe zum Neuen Testament. Dass er daraus viele anregende Lesefrüchte zieht, ist eine Seite. Die andere, wichtigere Seite ist (da mag sein Blick auf einen Grundtext des christlichen Glaubens noch so eklektisch sein), dass es ihm gelingt, daraus, gleich einem Sprungbrett, musikalisch-kompositorisches Kapital zu schlagen. Hörbar wurde dies auch im finalen Hauptkonzert mit „...hin...“ für Harfe und Kammerorchester, einer „Schattenpartitur“ (Mark Andre) mit durchweg abgedämpften, durch den Raum wabernden, schabenden Klängen. Was schließlich die Aufführungs-Sternstunde von „…selig sind…“ betrifft, so hatte diese sich vergleichsweise schnell herumgesprochen. Wer dann freilich der Meinung war, ihr mit Hilfe eines „WDR3-Konzertplayers“, diesem exzellenten neue-musik-freundlichen Radio-Service, noch nachträglich auf die Schliche kommen zu können, sah sich ent- beziehungsweise getäuscht, schall einem dort doch nur (wie anders) Lautsprechermusik entgegen. Was wir unter dem Strich natürlich auch als Trost verstehen dürfen, zeigt es doch, dass die Institution Live-Konzert unersetzlich ist, dass nur das Live-Konzert Aura transportieren kann: Wir müssen „dabei“ sein!

Zu den abgestrahlten Schallereignissen von „…selig sind…“ hier zwei Stimmen. Die eine vom Komponisten: „Unser Lautsprecher ist das Haus!“ Ein Statement, das Mark Andres Klangregisseur Michael Acker vom SWR-Experimentalstudio so ergänzte: „Wir verwenden keine Lautsprecher, sondern die akustischen Resonatoren, die im Raum vorhanden sind. Zu sehen ist nichts. Aber das Resultat ist verblüffend.“ Worin man diesem Klangmagier nur zustimmen kann, insofern dieser den Solisten so am verlängerten elektronischen Ärmchen hatte, dass er dessen Spiel nach ausgetüfteltem Plan ad libitum einfangen, zurückgeben konnte. Das Ganze nicht über irgendwelche aufgehängten Boxen, sondern (der Fachmann wie der Laie wunderten sich noch lange hinterher) über die im Oberlichtsaal des Museums vorhandenen „Wände“! Der Eindruck war der, dass die Klänge tatsächlich von überall kamen, wozu natürlich auch die Wanderungen des Solisten durch den Raum beitrugen, von Notenpult zu Notenpult, über 14 Stationen. Faszinierend dabei gar nicht so sehr die Wortfetzen aus der Bergpredigt, die man aufschnappte (Mark Andre hatte sie sich zuvor von Wittener Musikfreunden einsprechen lassen); es war der Gesamteindruck aus Flüsterstimmen plus Instrumentalspiel plus einer nahezu durchgehend im fünffachen Piano gehaltenen, also mit immenser Innenspannung zu Wege gebrachten Ausführung, die „selig“ machte, für Gesprächsstoff sorgte. – Man ging mit einem Konzerterlebnis.

Und vernahm hinterher, aus dem Radio, was Jörg Widmann, Musiker, Kunstfreund durch und durch, mit Blick auf „…selig sind…“ einerseits, auf das Zusammentreffen von (Neuer) Musik und Leben andererseits anzumerken hatte: „Da sind Momente in diesem Stück – ja, da war noch niemand. Ich stelle mir immer vor: der erste Mensch auf dem Mond. Wie bei Schönberg Opus 9. Solche Momente finde ich bei Mark Andre ganz oft, wo noch nie jemand war. Ob nicht doch – das klingt vielleicht klischeehaft – die Welt ein rudimentär besserer Ort sein könnte, wenn diese Art Sensibilität, die in dieser Musik vorherrscht, die Menschen wieder hätten?“

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