In den Selbstverständigungs-Diskursen der Musik ist der Raum allgegenwärtig: als philosophischer Topos, als aufführungspraktische Voraussetzung, als Gebilde aus Projektionen, Konventionen und Zielvorstellungen. Das Nachdenken über den Raum in der Musik, über Musik im Raum geht maßgeblich auf den Komponisten Iannis Xenakis zurück, der auch Architekt und Mitarbeiter von Le Corbusier war. Bei Xenakis geht es nicht nur um die notorische Ordnung zwischen Interpreten und Hörern im Konzertraum, es geht auch darum, durch Klangereignisse und ihren allgegenwärtigen, selten eindeutigen Verweisungscharakter zu unserem sechsten Sinn, dem Vorstellungsvermögen, Zugänge zu finden. Das war das Generalthema der ersten Frankfurter Biennale für moderne Musik mit dem griffigen Namen „cresc“.
Die Rhein-Main-Region ist, im nationalen Vergleich, mit zeitgenössischer Musik nicht ganz schlecht versorgt, dafür sorgen etliche gut eingeführte Institutionen. Die jetzt erstmals veranstaltete Biennale betrat insofern Neuland, als sie nicht einfach Vorhandenes fortsetzte, sondern in einer Maßstäbe setzenden Kooperation über Stadt- und Genregrenzen zustande kam: Die beteiligten Institutionen waren der Hessische Rundfunk, das Ensemble Modern, das Institut für Zeitgenössische Musik (IZM) der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst sowie das Internationale Musikinstitut Darmstadt. Die Regionalisierung machte das Festival auch zu einem geradezu prototypischen Betätigungsfeld für den Kulturfonds Frankfurt RheinMain. Unter der Geschäftsführung des ehemaligen Städel-Direktors Herbert Beck betätigt sich der Kulturfonds zunehmend als Institution zur Entkommunalisierung und regionalen Bewusstseinserweiterung der Kultur. So konnten sich verschiedene Erwartungen, Potenzen und Publikums-Segmente zu einem geradezu opulenten Ereignis miteinander multiplizieren.
Dass sich zu Neuer Musik der Diskurs gesellt, ist mittlerweile guter Brauch. Das cresc-Festival aber bot nicht nur die Textgattung von Einführungsvorträgen zu Konzerten an, es enthielt auch ein von Julia Cloot, der Leiterin des IZM, kuratiertes wissenschaftliches Symposium, in dem das kompositorische Denken Xenakis‘, sein philosophischer Horizont sowie die Komplexität der Ergebnisse beider einer schwergewichtig-anregenden Reihe von Analysen unterzogen wurde.
Eine von der Bayerischen Architektenkammer übernommene Ausstellung im Sendesaal-Foyer des Hessischen Rundfunks zeigte vor allem Material zum Philips-Pavillon, den Xenakis und Le Corbusier für die Weltausstellung 1958 in Brüssel entworfen hatten. Es handelte sich um eine verwickelte Raumkonstruktion über einem Grundriss, der einer zweidimensionalen Zeichnung des menschlichen Magens nachempfunden ist, anhand von hyperbolischen Kurven, die auch Xenakis’ Komposition „Metastasis“ zugrunde lagen. Der Pavillon war mit einer aufwändigen Tonanlage ausgestattet, für die Edgard Varèse das „Poème électronique“ komponierte. Nach der Weltausstellung wurde der Bau abgerissen, übrig blieb in Brüssel nur das in seinem intellektuellen Horizont bescheidenere Atomium.
Das Konzertprogramm konnte auf mehrere Spielorte zugreifen, die sich zu einer anregenden Vielfalt auffächerten und dem Generalthema „Musik und Raum“ soziale Komponenten zufügten. Zentrum der Biennale war der Sendesaal des Hessischen Rundfunks, dazu kam als eingeführte Experimentierbühne das Frankfurt LAB, ein ehemaliges Gewerbegelände im Frankfurter Westen. Zwei Konzerte veranstaltete das Internationale Musikinstitut in Darmstadt, das eine mit der geballten musikalischen Kompetenz des HR-Sinfonieorchesters und des Ensemble Modern in der Böllenfalltorhalle – einem lichten Sechziger-Jahre-Turnhallengewölbe, das andere in dem Club 603qm, einem Spielort der jüngeren Elektroniker-Szene.
In der Böllenfalltorhalle war – unter der musikalischen Leitung von Matthias Pintscher, später auch Lucas Vis und Paul Fitzsimon – die eindrucksvolle Aufführung zweier gewichtiger Kompositionen zu erleben, die den Raum der konzertanten Situation neu aufteilen: Xenakis’ „Terretektorh“ (1965/66), das Musiker und Publikum (nach präziser Notation) mischt und im Raum verteilt, und Stockhausens „Gruppen“ (1955) für drei Orchester (und drei Dirigenten). Dazwischen hörte man den Anthony Cheongs „Fog Mobiles“ mit dem perfekt artikulierenden Ensemble-Modern-Hornisten Saar Berger als Solisten und Thierry de Meys kurzweiliges Perkussionsstück „Musique de tables“ mit Rumi Ogawa, Eva Böcker und Nina Janßen-Deinzer. Im 603qm schuf das Ensemble Zeitkratzer auf der Basis von Reinhold Friedls „Xenakis (a)live“ zusammen mit dem Live-Video-Künstler Lillevan eine raumfüllende Synästhesie aus Musik und abstrakten, entwicklungshaft bewegten Bildern und Mustern. Unter den Programmen im Frankfurt LAB war, neben einem Neue-Musik-Exkurs der HR-Bigband, vor allem der Auftritt des Jack Quartet bemerkenswert. Die vier vergleichsweise jungen US-Amerikaner stellten zwei Streichquartette von Iannis Xenakis („Tetora“, 1990, und „Tetras“, 1983) in einen vibrierenden Kontext mit György Ligetis Streichquartett Nr. 2 (1968) und Scelsis Quartett Nr. 4 und verdeutlichten dabei Komponistenhaltungen und Klangforschungsgegenstände aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so vital und publikumszugewandt, dass man sogleich Lust auf eine komplette Streichquartett-Reihe mit diesen vier Musikern bekam.
Der Sendesaal des Hessischen Rundfunks war der angemessene Ort für die repräsentativen Festival-Ereignisse. Als Konzertsaal klassischen Zuschnitts erlaubt er nicht leicht die räumlichen Kühnheiten der Böllenfalltorhalle, dafür fielen die Suchbewegungen nach alternativen Raumanordnungen umso prägnanter aus, weil sie sich gegen die konventionelle Konzertsaalanordnung richteten. Das Ensemble Intercontemporain unter Leitung von Susanna Mälkki hatte seinen Schwerpunkt auf Musik für Blasinstrumente gesetzt und legte – als Denkangebot – musikhistorische Beziehungen und Parallelen vor allem zwischen Iannis Xenakis und Edgard Varèse nahe. Im Abschlusskonzert thematisierte das Ensemble Modern wie unter einem Festival-Schlussstrich in sechs Uraufführungen das aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft weisende Potenzial der Musik und der Gedankenwelt Xenakis’. Die sechs hier präsentierten Komponisten – Torsten Herrmann, Stefan Beyer, Balázs Horváth, Stefan Keller, Steingrimur Rohloff und Johannes Motschmann – stammen aus der akademischen Nachwuchsarbeit des Ensemble Modern, die in den letzten Jahren schon ein gehöriges Maß an musikalischer Gegenwart und Zukunft produziert hat. Ihre Arbeiten griffen den keimzellenhaft vieldeutigen (und wahrscheinlich nicht nur dreidimensionalen) Raum-Begriff Xenakis’ analytisch auf und kamen zu je eigenen Lösungen und Gestaltungen. Xenakis, das zeigte dieses Festival in seiner Massierung und in seinem internen Reichtum, war unter den Komponisten des 20. Jahrhunderts einer der unerschrockensten, systematischsten und zugleich chaotischsten kompositorischen Denker. Fast möchte man ihn als neuzeitliche Büste in eine Reihe mit den antiken Philosophen Griechenlands stellen, deren denkende Welterforschung den Horizont der Menschheit ein für allemal erweitert haben.