Dass wir uns mit den Griechen beschäftigen, steht auf der Tageordnung – mit oder ohne unsere höheren Absichten oder tieferen Beweggründe. Die Aufmerksamkeit muss einigen offensichtlich immer noch in philosophischer Ruhe über Grundsätzliches nachdenkenden heutigen Griechen gelten und ihren Ahnherren vor rund 2.500 Jahren. Denn ihr Einwirken auf das geschäftliche und kulturelle Leben nördlich der Alpen ist erheblich. Daher: Dank erst einmal Richtung Athen für die vielfältigen Beiträge zum Muntermachen und Frischhalten!
Der Dank in Richtung der westlich insulären Metropole London fällt gedämpfter aus. Dort hat die Nationaloper den „preisgekrönten britischen Komponisten Julian Anderson mit dem Dramatiker Frank McGuinness als Librettist zusammen“ gebracht und im vergangenen Mai deren gemeinsame Oper „Thebans“ uraufgeführt. Die „überzeugende Nacherzählung von Sophokles’ zeitlosen thebanischen Tragödien konzentriert sich auf das Schicksal des Ödipus und seiner Tochter Antigone. Mord und Inzest, politische Überambitioniertheit, Liebe und Loyalität, Hass und Rache fahren gleichsam alle auf einem Kollisionskurs, der unweigerlich in die Katastrophe mündet“.
Bei der Übernahme der großen dreiaktigen Oper des 1967 in London geborenen Kompositionslehrers Anderson war dies „gleichsam“ nun auch in Bonn zu hören und zu sehen. Allerdings gestaltete sich die „Katastrophe“ anders, als von den Betreibern der Halle am Boeselagerhof vollmundig annonciert. Das Londoner Autoren-Duo hat die von Sophokles in drei Tragödien ausgebreitete politische Familiengeschichte („Oidípous Týrannos“, „Antigonae“ und „Oidípous epi Kolōnō“) an einem Abend absolviert – in der Reader’s Digest-Manier der 1960er Jahre. Da wird bei der besserverdienenden Pensionisten-Hälfte des halb gefüllten Bonner Opernhauses ein sedimentierter Bodensatz an humanistischer Bildung der Jugendtage reaktiviert – in gediegener Zusammenfassung der sattsam bekannten Verstrickungen. Ihnen wird kein neuer Aspekt hinzugefügt. Dass das brutale Ende der Lieblingstochter Antigone – ihre Hinrichtung wegen Insubordination unter die Befehle des neuen Königs Kreon – vorm Tod des Vaters Oedipus abgehandelt wird, erweist sich als geschickter dramaturgischer Schachzug.
Viel Steine gibt’s und wenig Glück rund um die Betonstufen, die zu Thebens Machtzentrale hinaufführen – Brot und Wein schon gar nicht. Denn groß ist die Not des Volkes, dessen Frauen „Eimer voll Blut gebären“. Dass es so sei, wird gesungen – die Inszenierung des Amsterdamer Großraumintendanten Pierre Audi vermeidet, dies zu zeigen. Die vielen Steine wurden in Drahtgitter gepresst, wie dies auch für Schutzwände gegen Lawinen und Erdrutsch beim Verkehrswegeausbau gebräuchlich ist (es gibt erlesenere Gartengestaltung für Herrensitze). Die ChoristInnen kauern zur Klage in nazarenisch-antikischen Umhängen auf dem Boden. Im Wechselgesang zwischen dem als Kind ausgesetzten, dann unwissentlich zum Schlächter des Vaters und zum Ehepartner der Mutter gewordenen König, seinem Schwager Kreon, der doppelfunktionalen Jokaste, dem prophetisch begabten Politikberater Teiresias und einem Boten (der später auch die Partie des Athener Königs Theseus bestreitet) wird die Anamnese der Patchwork-Familie entwickelt – in einer sehr schlichten heutigen englischen Sprache. Sie steht in denkwürdigem Kontrast zu den archaischen Bräuchen, von denen sie berichtet. Ja, so mag man sich fragen, wenn denn allenthalben so sehr an Orakel (wie heute „ans Fernsehen“ und „das Internet“) geglaubt wurde, warum hat Oedipus denn nicht darauf verzichtet, jenen Alten, der ihn auf seiner Wanderschaft an einer Weggabelung unhöflich behandelte, totzuschlagen? Warum hat er sich als Belohnung für die Liquidation der terroristischen Sphinx vor den Toren Thebens nicht etwas anderes ausbedungen als das Bett der offensichtlich bereits etwas älteren Witwe Jokaste? Auch die Art der Familienplanung, die diese Upper-Class-Lady praktiziert, entspricht nicht durchgängig den heute in Rechtsstaaten üblichen Standards. Nein: Diese „Thebans“ wollen mit hier und heute nix am Hut haben und nichts „übersetzen“ oder gar neu setzen.
Die Musik hangelt sich, ohne Befähigung zum Strukturieren, Formbilden, Schürzen und Kulminieren, dem Text entlang – mit kompositorischen Mitteln, wie sie in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts bei Komponisten des angelsächsischen Raums gang und gäbe waren. Als hätten Jack Beeson, Benjamin Britten oder Thea Musgrave nicht genug Opern geschrieben ... Dabei erreicht sie deren Niveau nicht annähernd, nicht einmal die Kunstgewerblichkeit von George Benjamins „Written on Skin“. Wenn es denn schon musikalisch so trivial zugehen soll: Warum dann nicht lieber gleich ehrliche Popmusik die poppt, sondern Musik, die das Parkett leerfegt? (der Rang war ohnedies zugesperrt, damit später die getürkte Auslastungsstatistik nicht so verheerend ausschaut).
Auch für den Blick in die Zeit nach dem Ableben des Oedipus stehen wieder die vielen Steine bereit. Lediglich die Gewandung des Chors hat gewechselt: Ganz in Schwarz singen sie nun – eben so, wie die Zukunft einem wie dem über seine Selbsttäuschungen so entsetzten Selfmademan Oedipus erscheinen mag. William Dazeley beglaubigt den tragisch verstrickten König so überzeugend als noch recht jungen „Macher“ wie als gebrochenen blinden Greis. Anjara Bartz verkörpert die Frau in den besten Jahren, die so lange wie möglich am Ball bleiben möchte, nicht minder plausibel. Der bis in den schnell eintretenden Tod charakterfesten Antigone verleiht Yannick-Muriel Noah eine wuchtige Stimme – und Rolf Broman orakelt und intrigiert als Teiresias mit sonorem Bass. Da kommen auf der mit mancherlei reizvollen Dissonanzen prunkenden Tonspur, der allenthalben gut sangbare Solo- und Chorpartien eingeschrieben wurden, keine Missverständnisse über die dramaturgischen Funktionen der Protagonisten im Beziehungsgeflecht auf. Wenn Oedipus ins Jenseits entschwindet, fragt Antigone in einem von den nun sattsam bekannten Steinkäfigen gerahmten Wald, dem nicht nur der saure Regen und der Orkan Lothar zugesetzt haben, sondern auch das derb kunsthandwerklich operierende Bühnenbilddepartement der ENO: „Was ist dem Vater widerfahren“? Zumindest der Librettist hätte es besser wissen und mitreflektieren dürfen: Er ist in die Psychoanalyse eingegangen. Aber mit jener abgründigen Raffinesse, mit der Antikenmythenbearbeiter im 20. Jahrhundert (wie Jean Cocteau oder Wolfgang Rihm) die Tragödie des Oedipus reaktivierten, sind Anderson und McGuiness meilenweit entfernt. Sie werden nicht ins Buch der Rekorde für originäre und originelle künstlerische Arbeiten eingehen. Sie präsentieren Musiktheatralik auf dem Niveau der englischen Küche der 1960er Jahre – ein Genuss, den Jüngere kaum nachvollziehen können, die damals das Land der Torys und Labors nicht bereist haben (noch konnte es im wesentlichen die Gastarbeiterköche aus Italien, Spanien, Asien und Griechenland erfolgreich fernhalten).
Dass in einem Milieu, in dem die musikalische Moderne Mitteleuropas seit der Zweiten Wiener Schule für einen irrigen „Sonderweg“ gehalten wird, eine Oper wie „Thebans“ aus reaktionärer (und antieuropäischer) Ranküne gepusht werden kann, sollte hierzulande nicht ernsthaft irritieren. Bedenklich bleibt lediglich der Import des Machwerks in die Bundesstadt, die sich lange etwas auf ihre Aufgeschlossenheit gegenüber dem musikalisch Neuen zugute und in der Bundeskunsthalle eine Pflegestätte für das Avancierte hielt. Angelangt ist die Oper Bonn an einem Punkt, an dem sich Häuser ihrer Gangart von Pierre Boulez schon 1967 die Frage gefallen lassen mussten: „Die teuerste Lösung wäre, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Aber glauben Sie nicht auch, daß dies die eleganteste wäre?“ (Der Spiegel v. 25.9.1967).
Da heute vermutlich schon die Frage unter Terrorismusverdacht geriete und mobile Einsatzkommandos in Bewegung setzen würde, mag ja darüber nachgedacht werden, ob der Rhein nicht kurzfristig in Höhe der Kennedybrücke aufgestaut und mit dem sauberen Wasser die vom Intendanten Helmich aus Idar-Oberstein glücklos verwaltete Halle durchgespült werden sollte. Für Bildungsbeflissene: Methode Augiasstall.