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13.4.2018: Großer Saal. Jean Guillou. Foto: © Daniel Dittus
13.4.2018: Großer Saal. Jean Guillou. Foto: © Daniel Dittus
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Rebell, Visionär, Bewahrer, Erneuerer – Jean Guillou in der Elbphilharmonie

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Bezeichnend ist es allemal, dass das Geburtstagskonzert für Jean Guillou in Hamburg stattfindet – und nicht etwa in Paris. Das Verhältnis des Maître – so huldvoll tituliert man jenseits der Grenze verdiente Organisten – zu seinem Heimatland ist ein Kapitel für sich, eines, das nicht nur Lobeshymnen enthält. Das Sprichwort vom Propheten, der im eigenen Land wenig gilt, bewahrheitet sich hier einmal mehr.

Zu seiner Heimat und ihrem zentralistischen Musikleben hatte Guillou stets ein durchaus kritisches Verhältnis, und auch umgekehrt stand die Musikwelt Frankreichs Guillou immer reserviert gegenüber. Er ist und bleibt ein Solitär, insbesondere in der Orgelszene: Die einen verehren ihn, die anderen verdammen ihn. Gleichgültig lassen er und seine Musik kaum jemanden.

Das ist auch in der Elbphilharmonie zu bemerken, wo sich nicht wenige Guillou-Verehrer eingefunden haben, aber eben auch viele, die spätestens während des zweiten Teils des Abends, als Guillous Monumentalwerk „La Révolte des Orgues“ erklang, den Saal verlassen. Das Stück ist so was wie das Opus Magnum des ehemaligen Titularorganisten der Pariser Kirche St. Eustache, wo er von 1963 bis 2015 amtierte. Allein der Aufwand ist beachtlich: neben der großen Orgel braucht man acht weitere, sogenannte Truhenorgeln, die auf der Bühne aber auch im Raum verteilt sind. Dass man gerade in der Elbphilharmonie, die für ihr besonderes Raumkonzept bekannt ist, Konzessionen an eben jenes machen muss, entbehrt freilich nicht einer gewissen Ironie. Feuerpolizeiliche Gründe und die Tatsache, dass Plätze, die man als weitere potentielle Standorte für die Satelliten-Orgeln in Betracht hätte ziehen können, schon längst verkauft waren, führen mit fünf Orgeln auf der Bühne und drei im Raum verteilten zu einer erstaunlich konventionellen Aufstellung.

Kolossal ist der Eindruck trotzdem. Als Hörer befindet man sich inmitten von Pfeifen, wird von allen Seiten beschallt und erlebt Surroundeffekte vom Feinsten. Die Konzeption der Révolte ist eng mit Guillous Idee einer „Orgue à structure variable“, einer „Orgel mit variabler Struktur“ verbunden. In seinem Buch „L’Orgue: Souvenir et Avenir“ (Die Orgel: Erinnerung und Zukunft) beschreibt Guillou das Konzept des flexiblen Instrumentes, das aus einzelnen Komponenten zusammengesetzt und – da es leicht transportabel ist – an den verschiedensten Orten aufgebaut werden kann. Über detailgenaue Pläne, die fix und fertig in der Schublade eines Orgelbauers liegen, kam das visionäre Projekt bislang nicht hinaus, doch vermittelt die Révolte zumindest einen Vorgeschmack von diesem Instrument. Eines ist jedoch klar: die große Orgel, an der natürlich der Maître sitzt, gewinnt immer. Das gehört zum Spiel.

Guillou ist hier merklich in seinem Element, spielt mit 88 Jahren energisch, brillant, mit mehr Feuer und Elan als viele Organisten der jüngeren Generationen. Und auch die 2005 komponierte Partitur wirkt frischer, innovativer und zeitgenössischer als vieles andere, was seitdem entstanden ist. Guillou, der im Übrigen auch Lyrik veröffentlicht hat und Instrumente wie in Notre-Dame des Neiges in l‘Alpe d‘Huez, der Tonhalle in Zürich oder im L‘Auditorio de Tenerife konzipiert hat, beweist hier wieder einmal, dass er unbestritten immer noch zu den innovativsten Gestalten der Orgelwelt gehört: ein Unangepasster, ein Charakterkopf, nicht nur wegen des eindrucksvoll aufgetürmten Haarkranzes, der eines der Markenzeichen Guillous ist. Aber wenn es jemand schafft, neben Dirigent Johannes Skudlik und Schlagwerkerin Hélène Colombotti international renommierte Organisten vom Schlage Martin Bakers, Roberto Bonettos, Winfried Bönigs, Bernhard Buttmanns, Thomas Dahls, Jürgen Geigers, Roman Peruckis und Juan de la Rubias an einem Tag und einem Ort zu versammeln, dann kann man getrost davon ausgehen, dass er unter Umständen nicht ganz unbedeutend sein könnte.

Tatsächlich ist Guillou eine der prägendsten Gestalten für die Orgelmusik des 20. Jahrhunderts, die sich in kein Schema pressen lässt, in keine Schublade passt und die für die zeitgenössische Orgelmusik wie für den modernen Orgelbau bleibende Impulse gegeben hat. Das macht er zu Beginn des Abends mit einer Improvisation über ein Thema aus Johannes Brahms erster Sinfonie auch deutlich: so brillant wie Guillou das Thema des Hamburger Genius loci regelrecht atomisiert und in seinem extravaganten Personalstil in etwas völlig Anderes verwandelt, kann keinen Zweifel daran aufkommen, dass Guillou gleichermaßen Rebell wie Visionär, Bewahrer der Tradition wie deren Erneuerer ist. Auch wenn das Alter bei der von Guillou auswendig gespielten Bearbeitung von Modest Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung“ mitunter seinen Tribut fordert, wird an diesem Abend eines deutlich: Der kreative Umgang mit der Tradition, von jeher ein Anliegen Guillous, ist eben auch ein Weg um selbige zu erhalten.

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