Alle Komposition von Manos Tsangaris sind im weiteren Sinne musiktheatrale Aktionen. So auch die jüngste des erfolgreichen Kagel-Schülers, deren sehr allgemein gehaltener Titel eines „Musiktheaters für Darsteller, Instrumente, Raum und Licht“ zunächst einmal nichts über Inhalte und Besonderheiten verrät. Dahinter verbirgt sich ein medial aufgepeppter Orpheus-Mythos, vom Komponisten selbst im nackten Raum der Neuen Werkstatt der Staatsoper in Szene gesetzt.
Mit seiner jüngsten Musiktheater-Komposition knüpft Tsangaris an das griechische Theater an: Dionysos kehrt 2000 Jahre später an den Ausgangspunkt seiner Schöpfung zurück um zu sehen was aus seinem Theater geworden ist – und dann fehlen ihm stotternd die Worte. Anschließend schlüpft er in die Figur des Orpheus, vielleicht weil es der erzähltechnisch am leichtesten auf einen Punkt zu bringende Mythos ist. Dabei zielt der Komponist auf eine „Zweiteilung des Denkens“, wie er in seiner Werkeinführung vor der Uraufführung erläuterte.
Wie Arno Lücker in seiner spezifischen Reihe im Konzerthaus das Publikum das wiederholte Hören ermöglicht und dabei das Geheimnis der Musik als das von Wiederkehr und Wiedererkennen an neue Musik anwendet, so lässt Tsangaris seine Komposition am Abend gleich zweimal identisch erklingen, und der Trick dabei ist, dass der Zuschauer sie einmal von der einen, dann von der gegenüberliegenden Seite des Theaterraums erlebt.
Rote und schwarze Einlasskärtchen teilen das Publikum in zwei Hälften. Für die Zuschauer auf den vis-a-vis angeordneten dreireihigen Tribünen entsteht der Vorder-, Mittel- und Hintergrund, mit extremen Lichteffekten garniert und mit dem theatralen Einsatz von projizierten Videos als Spielmoment sui generis angereichert, optisch extrem unterschiedlich. Die beiden Hauptakteure und die fünf Instrumentalist_innen teilen sich in das Erzeugen von Geräuschen und Singen, wobei die Mezzosopranistin Marielou Jacquard für Eurydike wie für die Weiblichkeit selbst und der Bariton Martin Gerke für Orpheus und Dionysos, wie für das männliche Wesen schlechthin steht.
Zwei Pianistinnen (Jenny Kim und Alba Gentili-Tedeschi) schreiten mit Lautsprechern auf Stativen als Chor einher, einem eingespielten Chor, der zunächst die Texte des Unterweltchors aus Glucks Wiener Fassung des „Orpheus“ rhythmisch skandiert.
Die Perkussionistin Evdoxia Filippou bedient die große Trommel, schlägt per Tischtennisschläger gegen die Öffnungen zweier unterschiedlich langer Pappröhren und löst die Schwingungen eines silbernen Pendels aus. Die Violaspielerin (Emily Yabe), eine der beiden Pianistinnen und die Sängerin hantieren am anderen Ende des Raumes an Tischchen mit klappernden Halsketten und den Schlägen gegen Glocke und Trinkglas – eine zusätzliche, intime Schlagwerk-Klangerzeugung.
Vertritt die Viola atmosphärisch das weibliche Prinzip, so produziert der Bassklarinettist Alexander Glücksmann gegenüber – als das männliche Prinzip dieser Produktion –nicht nur Schnarch- und Tiergeräusche, er dirigiert auch das gemischte Ensemble in den rein instrumentalen Passagen.
Die Überlegung, ob Eurydike an der Seite von Orpheus, wenn dieser sich auf dem Rückweg aus der Unterwelt nicht nach ihr umgeblickt hätte, glücklich geworden wäre, ist nicht neu. In der jüngsten Orpheus-Adaption macht Tsangaris, der diesen Mythos bereits in einer anderen Produktion in Bielefeld aufgegriffen hatte, die Probe aufs Exempel: Eurydike wirft Orpheus vor, sie schlafe gern bei offenen Fenstern, Orpheus aber bei geschlossenen. Solch banale Differenzen (die auch in der hier gewählten englischen Sprache nicht gehaltvoller werden und schon gar nicht, wenn man sie zweimal hintereinander, also viermal am selben Abend hören muss) bringen das Paar auseinander, das dann, von einander abgewandt, mit Kopfhörern die berühmte Arie „Che faro“ aus Glucks „Orpheus“ hört, wobei die Klänge der Aufnahme nur leise den Raum erfüllen. In neuem, weißem Gewand, schlägt die abgewandte Protagonistin ihrem Ex vor, dass man sich nach der Trennung doch noch ab und zu treffen könne, aber nicht heute und nicht morgen, und sie stellt die Frage nach den Kindern, die sie gerne von ihm gehabt hätte aber nicht bekommen hat.
Da der Rezensent die schwarze Karte gezogen hatte, erlebte er das Spektakel zunächst aus der Sicht des Mannes. Drei kleine Beamer projizieren sequenzartig vorproduzierte Videos auf die weißen Hemdbrüste der Helden (Video: Nastasja Keller). Später projiziert der heutige Orpheus aus einem noch kleineren Beamer die Partnerin auf seine Hand, auf seinen Arm und auf seine Brust – ein Dialog von Vanitas, Vergangenheit und Unmöglichkeit.
Aufgewertet, mit laut hörbaren Durchsagen, ist der Inspizient dieser Aufführung, der beispielsweise mit „Pin noise ab“ den Einsatz von weißem Rauschen als einem der „abstrakten Stücke“ der vorwiegend grafischen Partitur auslöst und mit französischem Akzent den englischen Werktitel verballhornt.
Der Bariton holt aus einer dampfenden Kiste einen Sektkübel und gibt mit einem kleinen roten Besen Impulse, bevor – ungewöhnlich in einer zeitgenössischen Opernproduktion – nach 45 Spielminuten vom Inspizienten eine 20-minütige Pause ausgerufen wird.
Nach dieser Pause erlebt der Zuschauer das Spektakel von der anderen Seite, der Rezensent also von der Frauenseite her. Bei diesem zweiten Durchlauf fielen in den vordem dicht gedrängt sitzenden Publikumsreihen doch einige Lücken auf.
Trotz Blick auf die Normaluhr über der Tribüne der männlich dominierten Seite, schien der zeitliche Ablauf zu divergieren. Auf jeden Fall aber verschob sich die Wichtigkeit von Details. Nur auf der weiblich dominierten Seite ist die Klangerzeugung der drei Frauen optisch zu erleben, das Hantieren der Mezzosopranistin mit einer Spionagekamera, ihren Aufbau einer von ihr auf einen klassischen Bildschirm projizierten Spielzeugwelt, gegengeschnitten mit Bildern der mit Textbotschaften beschmierten Innenwände des Einfamilienhauses, oder mit Text-Informationen als gedruckten Miniatur-Bildtafeln per Live-Projektion.
Einen dann auch klanglich eklatanten Unterschied zwischen erstem und zweitem Durchlauf bilden zwei Bühnentechniker, die mit Akku-Bohrschraubern an einer im Spiel als Projektionsfläche dienenden Kiste hantieren: sie waren, recht unmotiviert, zu Beginn zu erleben, und nun, beim zweiten Durchlauf, schlagen sie rhythmisch schraubend den Bogen zum Anfang des Abends und bilden dessen Abschluss.
Mit der hochwertig engagierten Ausführung seines „Musiktheaters für Darsteller, Instrumente, Raum und Licht“ durch alle Beteiligten konnte der Komponist, der an diesem Haus zuletzt mit „Batsheba. Eat the History!“ zu erleben war, zufrieden sein. Er erntete überaus positive Reaktionen des Publikums, wobei während der Aufführung bisweilen etwas aufdringliche Lacher aufgefallen waren.
- Weitere Aufführungen: 22., 25., 26., 29. und 31. Mai, 2. und 3. Juni 2018.