Als schrammte ein Graphiker seinen Grabstichel in eine Kupferplatte, so tönt am Beginn Hannes Kerschbaumers „schraffur“ für Vierteltonakkordeon und Ensemble. Ein beeindruckend eigenwilliges Stück mit geradezu geometrischen Lineaturen, das bei „Wien Modern“ durch Krassimir Sterev am Akkordeon, das Klangforum Wien und den souverän gestaltenden Emilio Pomàrico am Dirigentenpult zur Aufführung gebracht wurde. Durch vier weitere Kompositionen, darunter drei Uraufführungen, und die Verleihung des Erste-Bank-Kompositionspreises stand der 36-Jährige Südtiroler Komponist im Fokus des Festivals, das im Herbst 2017 bereits zum 30. Mal stattfand.
Die meisten Stücke Kerschbaumers gehorchen sehr gegenständlichen, teils von der Natur, teils von künstlerischer Arbeit abgeleiteten Prozessen: Das Geigensolo „schurf I“, uraufgeführt von Sophie Schafleitner, wurde durch die Schürfgeräusche beim Graben in Stollen inspiriert; im Ensemblestück „pedra.debris“ spürt Kerschbaumer wiederum dem Meißeln eines Bildhauers und den Geräuschen der dabei zu Boden fallenden Gesteinsbrocken nach. Und in „geschiebe“ für Viola und Tenorblockflöte sind es alpine Gesteinsverschiebungen, die ihn zur allmählichen Aufhebung der jeweiligen Klangcharakteristika der beiden Instrumente führten.
„Bilder im Kopf“ lautete das thematische Motto der Jubiläumsausgabe von „Wien Modern“, das zum zweiten Mal Bernhard Günther kuratiert wurde. Seit Claudio Abbado das Musikfestival 1988 gegründet hatte, veränderte sich „Wien Modern“ erheblich: Anstelle der anfänglichen Komponistenretrospektiven setzt Kurator Günther verstärkt auf neueste zeitgenössische Kompositionen: Nicht weniger als 43 Uraufführungen standen auf dem Programm des fünfwöchigen Festivals, das über verschiedene Bühnen der österreichischen Hauptstadt ging.
Wenn „Wien Modern“ auch in die Vergangenheit blickte, dann mit Bedacht. Die kleine Retrospektive auf die französische „Musique spectrale“ war etwa dem Festivalmotto „Bilder im Kopf“ geschuldet, das Bernhard Günther im Gespräch so erläutert: „Musik setzt die Imagination in Gang, und das kann natürlich die unterschiedlichste Musik sein. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschah dies jahrzehntelang eher gegen den Willen der Komponist/-innen, die sich geradezu gewehrt haben gegen Bilder. Inzwischen liegen mehrere Revolutionen der Musik hinter uns, beispielsweise der Musique spectrale, die in den 1970er-Jahren in Paris entstanden ist und ganz bewusst wieder mit diesen Bildern arbeitet.“
Aus der spektralen Analyse der Geräusche von Gewittern gewann etwa der französische Komponist Tristan Murail das musikalische Material seiner halbstündigen Komposition „Liber fulguralis“, die das Ensemble PHACE beeindruckend spielte. Inspiriert von der Kunst der antiken Orakel-Deutung von Blitzen, entwickelt Murail in seinem Werk eine poetische Exegese eines der faszinierendsten Naturphänomene. Hugues Dufourt, gleichfalls einer der Spektralisten der ersten Stunde, bezieht sich in seinem imposanten, vom „ensemble recherche“ glänzend interpretierten Zyklus „Apollon et les continents“ sogar auf ein Deckenfresko des italienischen Malers Giovanni Battista Tiepolo in der Würzburger Residenz. Ohne dessen konkrete Inhalte wiedergeben zu wollen, versucht Dufourt die Farbkomponenten des vierteiligen Freskos mit extrem dichten Texturen nachzuempfinden.
Neben den bilderreichen Werken der „Musique spectrale“, zu denen auch Gérard Griseys „Les espaces acoustiques“ zu zählen sind, glückten von den größer besetzten Projekten jene am überzeugendsten, in denen mit rein instrumentalen Mitteln die „Bilder im Kopf“ erzeugt werden, wie durch Péter Eötvös‘ „Chinese Opera“ oder Olga Neuwirths akustisches Venedig-Portrait „Le Encantadas o le avventure nel mare delle meraviglie“, das 2015 bereits in Donaueschingen zu hören war.
Sieht man von der konzertanten Wiedergabe von Hans Werner Henzes selten gespieltem „Floß der Medusa“ (mit dem RSO Wien und dem Bariton Dietrich Henschel unter Cornelius Meister) einmal ab, verliefen die szenischen Projekte von „Wien Modern“ hingegen eher enttäuschend: Nicht mehr als arrangierte Turnübungen und Biertischgelaber präsentierte die Gruppe „netzzeit“ bei ihrem Stationentheater „An die Grenze“; unter der brachialen Lautstärke, die der Dirigent Walter Kobéra von der koproduzierenden Neuen Oper Wien entfachte, litt wiederum Johannes Maria Stauds polystilistisches Musiktheater „Die Antilope“. Einigen Charme entwickelten nur die „Wasserwege“ in den Auen des Wiener Praters: Vorbei an merkwürdigem Grunzen aus dem Laub gelangte das Publikum zu Hörstationen, an denen Stücke von Schüler/-innen der Linzer Kompositionsklasse von Carola Bauckholt gespielt wurden, die auch selbst mit dem Perkussionsstück „Der aufgefaltete Raum“ präsent war.
So lag die Stärke von „Wien Modern“ diesmal im Kleinen, eher Unspektakulären, wie dem Konzert des Duos „Two Whiskas“ von Ivana Pristašová und Caroline Mayrhofer. Mit Wolfram Schurigs „cappriccio per goldner“ und Judith Unterpertingers „azadi“ standen neben Hannes Kerschbaumers „geschiebe“ zwei weitere spannende Uraufführungen auf dem Programm dieses Abends. Nicht minder beeindruckend war die Wiedergabe von György Kurtágs „Kafka Fragmente“ durch die Sopranistin Caroline Melzer und die Geigerin Nurit Stark. Und im Konzert des Arditti Quartetts überzeugten neben Jennifer Walshes Performance „Everything Is Important“ vor allem die intimen „Sieben Stücke für Streichquartett“ von Gösta Neuwirth.
Unter den etwas größer besetzten Kammermusikwerken österreichischer Komponisten stachen Gerhard E. Winklers „Packeis-Istanpittas (Anamorph X)“ hervor. Das vom Ensemble PHACE unter Joseph Trafton uraufgeführte Stück bezieht sich auf mittelalterliche ,Estampies‘, die im Italienischen als ‚Istanpittas‘ bezeichnet werden. Diese Tänze leuchten in Winklers Stück immer wieder durch anamorphe Projektionen auf, einer aus der Kunstgeschichte entlehnten Methode, Gegenstände verzerrt darzustellen. Auf diese Weise gelingt Winkler ein gespenstischer Totentanz auf unsere Gegenwart: Das weiße Rauschen einer Elektronikschicht ist am Ende alles, was übrig bleibt von der Menschheitsgeschichte und deren Musik.
Elektronik fand auch in einem speziellen „Acousmatic Project“ Einsatz unter der imposanten Holzkuppel der alten Technischen Universität Wien: Durch ein so genanntes „Akusmonium“, ein von Thomas Gorbach entwickeltes, im Raum verteiltes Lautsprecherensemble, das mit Hilfe eines Regiepults gesteuert wird, lassen sich elektroakustische Kompositionen gleichsam in den Raum projizieren, so dass die Klänge mal von rechts, mal von links, mal von hinten, mal von oben ertönen. Waren die Bildhaftigkeit und die Referenz auf das Klangobjekt in den Anfängen der von Pierre Schaeffer in den 1940er-Jahren begründeten „Musique concrète“ noch eher verpönt, so vollzog sich in der akusmatischen Musik seit den 1970er-Jahren ein Wandel: Dass auch ohne Videoprojektionen „Bilder im Kopf“ erzeugt werden können, demonstrierten unter anderen Beatrice Ferreyra, die aus Frankreich angereiste, argentinische Grande Dame der akusmatischen Musik, mit ihrer Komposition „Les larmes de l’inconnu“ („Die Tränen des Unbekannten“) oder Katharina Klement mit ihren „peripheries 1-5“, einem vielfältigen akustischen Portrait der serbischen Hauptstadt Belgrad. Der Ursprung der elektronischen Sounds bleibt dennoch meist im Dunkeln: Kaum würde man etwa vermuten, dass die meisten Klänge, auf denen Bruno Strobls elektroakustische Komposition „Gesselkopf“ basiert, von einem Kontrabass stammen. Moderne Filtertechniken machen es möglich, die Klänge – seien sie von Instrumenten oder aus der Natur – digital so zu verfremden, dass eine ganz neue Klangwelt entsteht.
Ergänzt durch die raumakustischen Projektionen mit dem „Akusmonium“ erwirken viele der präsentierten Stücke tatsächlich ein Eintauchen in eine innere Bilderwelt, selbst ältere Werke wie Anestis Logothetis‘ „Wellenformen“, die das erfreulich zahlreich erschienene Publikum durch polymorphe Klangkonstellationen begeisterten.