Seit etwa zehn Jahren hält Augmented Reality und Virtual Reality langsam aber unaufhaltsam Einzug in Oper und Musiktheater. Lesen Sie dazu das Dossier mit einem Artikel von Roland H. Dippel sowie ein Interview mit dem Komponisten Mathis Nitschke und dem Medienkünstler Luciano Pinna auf Seite 16, das Chefredakteur Andreas Kolb geführt hat.
Reise durch Deutschlands künstliche Bühnenwelten
Mit Ende der Pandemie sind die Theater wieder präsent. Sie und das Publikum sollen sich verjüngen. Das, so die Meinung, ginge nur durch einen Techniksprung mit Digitalisierung, VR (= Virtual Reality) und AR (= Augmented Reality). Bisherige Resultate sind überschaubar. Einerseits bewegt AR auf der Bühne nicht so viel wie in der Kulturvermittlung, etwa in der App OpAR der Deutschen Oper am Rhein. Andererseits klagt man im Musiktheater über wenig kommode Gerätschaften. Eine AR-Brille wird im langen Akt einer älteren Oper ziemlich schwer. Beim Betrachten des Bühnenbilds verfälsche die Sichtfläche der Brille Farben.
Solche Einwände hörte man beim VR-„Parsifal“ der Bayreuther Festspiele 2023 ebenso wie beim VR-Versuch der Deutschen Oper am Rhein in der von Daniel Kramer inszenierten Neuproduktion von „Die tote Stadt“ im Frühjahr 2023. „Die Zuschauer können sich Informationen über Stück, Musik und Solisten digital zuspielen lassen oder auch einen Blick in den Orchestergraben werfen.“ (dpa-Meldung)
Man muss grundsätzlich unterscheiden zwischen VR und AR in neuen Musiktheater-Werken, welche diese Technologien vorschreiben, und älteren Werken, bei denen VR und AR ein fakultatives Mittel des Regieteams sind. Dabei geht es nicht um eine moralische Wertung, sondern um die Kompatibilität mit Vorlieben des Publikums. Wie viel VR und AR verträgt das heutige Musiktheater demzufolge?
Zur Antwort hilft ein Blick auf Theater, welche auf die Auswirkungen der Pandemie mit strukturellen Erweiterungen reagierten. Die Sparte des Digitaltheater am Staatstheater Augsburg, die Akademie für Theater und Digitalität ist „sechste Sparte des Theater Dortmund“ und das Extended Reality Theater (XRT) als neue „digitale Spielstätte“ des Staatstheater Nürnberg. In diesen Nischen sind VR und AR potenzielle Mittel neben anderen. Dabei fällt auf, dass im Schauspiel VR und AR nicht so intensiv erörtert werden wie im Musiktheater, obwohl Sprechtheater geringere Planungszwänge hat als Musiktheater und Orchesterkonzerte. Aber es ergeben sich andere Probleme. Am Ende der Spielzeit 2022/23 war das Resultat von Konstantin Küsperts, Fabian Schmidtleins und Roman Senkls „Mythos P.A.N.“ in der Nürnberger Spielstätte XRT zwiespältig. Die Potenziale der jungen Techniken im theatralen Ambiente der 3. Etage des Schauspielhauses wirkten harmlos. Dabei setzt man auf Aktualität und Beschleunigung. Trotzdem besteht das Risiko, dass innovative Ideen bis zur Premiere eine galoppierende Relevanz-Vergreisung erleiden.
Diese Gefahr gibt es beim Musiktheater und Konzerten seltener. Während das Schauspiel und beim Figurentheaterfestival Erlangen/Nürnberg/Fürth/Schwabach 2021 und 2023 gezeigte Projekte etwas Spielerisches und Flüchtiges hatten, erhalten VR und AR im Musiktheater großes Gewicht für die Promotion und erhoffte Relevanz der Außenwirkung. Das Ereignis von AR und VR gerät also mitunter zum Selbstzweck. Publikums- und Medienstimmen stellen im Musiktheater neben Aha-Erlebnissen, Staunen und Skepsis regelmäßig eine Lücke der Mittel von VR und AR zum Werkgehalt fest. Das Publikum merkt sofort, wenn ein plausibles Postulat Mathis Nitschkes, des Komponisten und technisch affinen Produzenten von Musikprojekten, nicht eintritt: „Komposition, Regie und Technik müssen von Anfang an gleichzeitig gedacht werden. Nur wenn die gewählte künstlerische Form die Technik existentiell nötig hat, wird etwas Spannendes entstehen.“
Bei älteren Werken hängt der Erfolg demzufolge davon ab, wie stark die Inszenierung den Nerv des dargestellten Stücks trifft. Seit Herbst 2020 spielte man im Martini-Park, Spielstätte des Staatstheaters Augsburg, Christoph Willibald Glucks Oper „Orfeo ed Euridice“ (1762 ff) als „digital-innovatives Pilotprojekt einer virtuellen 360°-Welt“ (Theater-Homepage). Die vom Digitaldramaturgen Christian Felder aufgegriffenen Genres Fun Fantasy und Science Fiction zeigten kreative Gewitztheit. In André Bückers Inszenierung wurde der mythische Sänger Orpheus in eine Caravaggio-Ausstellung versetzt. Selbst wenn der Charme von der als VR-Hostess eingeschleusten Schauspielerin Marie Ulbricht Längen neutralisierte, geriet das Aufsetzen der VR-Brillen zur Stückbremse. Mittels virtuellem Flugobjekt landete die Zuschauerschaft in einer düsteren Megalopolis. Glückhafter ergänzten sich Partitur und visuelles Environment in den elysäischen Gefilden. Unter pinkem Himmel kreisten Flugsaurier. Quallige Leiber wabbelten heran wie die Kugelmenschen aus Platons „Symposion“. Orfeo und Euridice kommen später nicht in den siebten Ehehimmel, sondern in diesen Paradiesgarten. Die virtuelle Zukunft, in der alles allen gehört, beginnt. Mit nerviger Zweisamkeit ist endlich Schluss. Das musste nicht allen gefallen, war ziemlich opulent und hatte trotzdem einen Nachteil für die Feinabstimmung zwischen Musik und Szene. Denn das virtuelle Illusionsangebot in den VR-Brillen konnte nicht auf Temposchwankungen durch live ausgeführte Musik reagieren.
Bayreuther Festspiele 2023. Die wenigen Anwender*innen einer VR-Brille zeigten in der zweiten Hälfte von Wagners Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ Ermüdungserscheinungen, welche nicht durch die getragenen Tempi der Partitur ausgelöst wurden. Das hatte zwei Gründe. Zum langen Orchestervorspiel des ersten Aufzugs hatten die in den VR-Brillen zugespielten Bildbewegungen des medienaffinen Regisseurs Jay Scheib einen das Geschehen auf der Bühne ergänzenden Inhaltsreichtum. Bei den Begegnungen Parsifals mit den Blumenmädchen und Kundry empfand man die AR-Bildzutaten als redundant. Scheib setzte AR-Bildergänzungen synchron zur Musik. Doch entstand durch die Schichtung von AR-Zusätzen, Bühne und Spiegelungen im Bühnenbild der Eindruck von Reizüberflutung und Ablenkung vom Wesentlichen – also Text, Musik und Szene. Online-Technologien ermöglichen einen variablen Umgang mit dem Zeitpunkt des Sehens, der Wiederholbarkeit von Audio- und Videodaten sowie der Wiedergabe. Umso deutlicher fällt auf, dass sich VR- und AR-Projekte bislang auf Musiktheater im Rahmen von regulären Vorstellungen mit einem in Proben fixierten Verlauf dazwischen ergeben. Das Offene, Zufällige und Improvisierende, was Digitalität und Interaktivität ermöglichen, bleibt von Musiktheatern bisher weitgehend ungenutzt.
Ein Projekt zeigt das Machbare. Die Uraufführung von Ole Hübners und Thomas Köcks „opera, opera, opera! revenants & revolutions“, eine Koproduktion der Münchener Biennale für Neues Musiktheater mit den Bühnen Halle, wurde 2020 zum Corona-Opfer. Im Textbuch Köcks trifft ein Cyborg in ferner Zukunft auf Avatare eines Opernchors. So erfährt er einiges über die verschwundene Kunstform. Aufgrund des Intendanzwechsels in Halle konnte die Gesamtproduktion nicht verschoben werden. Der MDR produzierte eine Aufnahme von einem Drittel des Werkes. Mit Beginn des Projekts war eine umfangreiche digitale Chronik und Dokumentation geplant. Weil der Bühnenbildner Martin Miotk souverän zwischen physischen, digitalen, visuellen und auditiven Segmenten switchte, konnte das Konzept relativ leicht in andere Kunstmodule transformiert werden. Bei der Münchner Biennale 2022 entstand aus der MDR-Aufnahme und den physisch-digitalen Materialien die mit dem künstlerischen Leiter Michael von zur Mühlen in modulare Parcours-Stationen umgewandelte „operative Installation“. Seit Sommer 2023 tourt das Projekt als „A Future Game“ zu den Avantgarde-Spielstätten Mitteleuropas. Inzwischen ist es nicht unwahrscheinlich, dass die physisch-konventionelle Erstfassung doch noch als physische Oper zur Uraufführung gelangt. Bedingt durch die verrückten Zeitläufe ist „opera, opera, opera! revenants & revolutions“ ein exemplarisches Werk für das offene Musiktheater-Verständnis des 21. Jahrhunderts. Zugleich erhellt die verwinkelte Genese, dass die Erweiterung von Musiktheater durch VR und AR vor allem als neues Mittel der Inszenierung verstanden wird. AR und VR kommen seit einiger Zeit in die ambitionierte Musiktheater-Regie wie das seit fast einem Jahrzehnt unverzichtbare Video. Die Funktionalisierung von Video bewegt sich zwischen den Polen von (wiederholender) Inszenierung bis zur eigenständigen und deshalb den Sinn erweiternden Zeichenhaftigkeit. Deshalb muss man feststellen, dass im Musiktheater bislang nur ein geringer Teil der Funktionspotenziale von VR und AR genutzt werden.
Anders als im Schauspiel und Figurentheater, wo man weitaus weniger Aufhebens über die Mittel macht. Ein gutes Beispiel ist der Livestream des „Familiodrom“ von Interrobang Performance beim (digitalen) Figurentheaterfestival 2021. Die Hauptfigur Emil trat nicht auf und existierte nur virtuell. In einer Zoom-Konferenz kreierte das Publikum ein Traumkind von der Familienplanung bis zur Volljährigkeit. Zuschauer schlüpften über Smartphone, Chatfenster und persönliche Stellungnahmen in die Rolle von Erziehungsberechtigten. Man stimmte ab über pädagogische Weichenstellungen und war im Dilemma betreffend Entscheidung für die beste Schule. So interaktiv ist Musiktheater selten.
Bayreuth zeigte: Die partielle Ausstattung des Publikums mit AR-Brillen schafft eher neue Exklusivität statt Demokratisierung. Zudem werden sich in Zukunft nurmehr wenige Theater VR- und AR-Projekte leisten können. Für Streaming und Digitalisierung standen während der Pandemie höhere Finanzmittel bereit als jetzt. Nach ersten Versuchen käme vielen Häusern Streaming und dessen Equipment zu teuer, ebenso AR und VR. Nach diversen Ersterfahrungen im Musiktheater folgt jetzt offenbar eine Phase des Reflektierens darüber, was AR und VR neben der Sensation bezwecken und thematisieren sollten. Wie der Blick Richtung Schauspiel und Figurentheater zeigt, gibt es viele vom konventionellen Musiktheater aufgrund starrer Werkstrukturen kaum nutzbare Anwendungsmöglichkeiten. Das liegt auch daran, dass die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit begrenzt ist und fast jede akkumulierende visuelle Erweiterung von der Wahrnehmung der Musik und ihrer Inhalte ablenkt. Die nächste Stufe der Aneignung wird also sein, dass VR und AR eine Verwendung finden, welche nicht durch eine vergrößerte Zahl der Mittel zerstreut und dafür die Wahrnehmungsenergie steigert. – Theorie und Praxis sind in starker Bewegung. Also ist morgen möglicherweise schon wieder alles ganz anders.
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