nmz: Welche Projekte stehen bei Ihnen an? Individuell oder als Team?
Nitschke: Als inszenierender Komponist bin ich derzeit nicht sonderlich aktiv, da ich etwas erschöpft bin vom erfolglosen Einwerben von Fördergeldern im anspruchsvollen Maßstab. Die Theaterarbeit mit neuen Technologien wird schnell sehr teuer, wenn man sie so seriös betreiben will, dass etwas Großartiges dabei rauskommen kann. Das Vertrauen aber, dass ein im Verhältnis zum finanziellen Aufwand stehendes großartiges Ergebnis entstehen kann, ist derzeit leider nicht gegeben. Zu frustriert sind die Jurymitglieder von nicht funktionierenden oder billig anmutenden digitalen Projekten. Ich kann es ihnen nicht vorwerfen, ich teile sogar die Erfahrung. Bereits vor Covid war die Reputation digitaler Projekte gering, jetzt nach der durch Covid begründeten Schwemme erst recht. Ich wollte immer beweisen, dass es auch anders geht, aber offensichtlich hat es noch nicht gereicht. Aber wer weiß, was die Zukunft bringt.
Pinna: Wie schon erwähnt habe ich mit Mathis an zwei Projekten gearbeitet: der AR-Oper Maya und dem KI-Forschungsprojekt Lure.
Dieses Jahr habe ich mit der Choreografin Jasmine Ellis am Projekt Reality Warping gearbeitet. Es handelt sich um eine Tanzperformance, die mithilfe künstlicher Intelligenz, Projektionsmapping und Live-Musik Realität, Wahrnehmung und soziale Konstrukte in Frage stellt. Dort verwendete ich zwei Projektionsflächen, zwischen denen vier Tänzer auftraten, wobei jeder Tänzer ein Smartphone nutzte, um sich selbst und den anderen zu filmen. Die Premiere fand im Juni in München im HochX Theater und in der ARGEkultur Salzburg statt.
Ein weiteres Projekt, das dieses Jahr im SXSW Austin, Texas gezeigt wurde, ist Symbiosis, eine performative, multi-user- und multisensorische VR-Installation des niederländischen Künstlerkollektivs Polymorf. In Symbiose wird der menschliche Körper neu gestaltet. Ein Teilnehmer wird in eine maßgeschneiderte Suite gebracht und erlebt eine spekulative Geschichte über das Leben als symbiotisches Wesen in VR durch Ton, Bild, Druck, Geruch und Essen.
Letztes Projekt, die Augmented-Reality-Oper Antigone Exp. No 2 des Musiktheaterkollektivs AGORA. Darin wird das Publikum Teil einer Chorszenografie und ist eingeladen, sich frei zu bewegen oder einem bestimmten Protagonisten mit dem eigenen Telefon zu folgen. Das Besondere hierbei ist, dass alles von zwei Kameramännern live gefilmt wird (mit AR on top) und das Publikum live in die Oper schauen oder über sein Smartphone schauen kann, was gefilmt wird. 2022 im Theater im Delphi, Berlin und Gare du Nord Basel gezeigt.
nmz: In welcher Art und Weise treffen Komposition, Regie und Technik aufeinander?
Nitschke: Komposition, Regie und Technik müssen von Anfang an gleichzeitig gedacht werden. Nur wenn die gewählte künstlerische Form die Technik existentiell nötig hat, wird etwas Spannendes entstehen. Andersherum darf sich die Kunst natürlich nicht die Grenzen seitens des aktuellen Stands der Technik vorschreiben lassen. Dann muss man kreative Auswege finden und das sind dann meiner Erfahrung nach die Abzweigungen, die interessant werden, dann betritt man neues Terrain.
Pinna: Ich stimme Mathis hier voll und ganz zu. Es beginnt und endet mit dem Erlebnis. Gleichzeitig kann durch die Erforschung von Technologie ein Konzept (weiter)entwickelt und neue Wege entdeckt werden. Im Schnittpunkt zwischen den Disziplinen werden die Dinge interessant, wenn die Dinge aufeinanderprallen, kann sich die Essenz der Erfahrung manifestieren.
nmz: Sie haben erwähnt, dass die Finanzierung eine größere Herausforderung darstellt, als bei konventionellen Produktionen. Inwiefern?
Nitschke: Großes Problem. Ich ver-stehe aber auch die Geldgeberseite. Warum sollte man ein paar hunderttausend Euro in ein Projekt stecken, das nur wenige Male ein begrenztes Publikum finden wird? Eigentlich bräuchte es Skalierungsmöglichkeiten wie im Film, damit Fördermöglichkeiten wie im Film möglich werden. Aber dann müsste man sich vermutlich von Live-Akteuren verabschieden und dann hat man kein Menschentheater mehr. Ich habe so ein paar Ideen, die in Richtung interaktives Live-Kino gehen. Aber im Herzen bin ich halt doch Theatermacher im Sinne Peter Brooks: „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. ein Mensch geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“ Man braucht Mensch und Raum für Theater, keine Leinwand. Schwerlich skalierbar.
Pinna: Es kann eine Herausforderung sein. Gleichzeitig ist es wichtig, neue Zielgruppen zu gewinnen, neue Wege zum Erzählen von Geschichten zu finden und die Auswirkungen dieser Technologien zu erforschen.
Nitschke: Möglicherweise verändert sich aber derzeit die Kostenstruktur für digitale Projekte fundamental. Im Winter werde ich ein digitales Projekt entwickeln, das ich diesmal dediziert mit Unterstützung von ChatGPT statt eines (berechtigt) teuren Entwicklers prototypen werde. Gerade die Konzeptphase ist ja mit viel Ausprobieren und Verwerfen verbunden, womit man als Künstler Entwickler schnell in den Wahnsinn treibt und die Kosten explodieren lässt. Bin gespannt, wie sich das anlässt. Schon möglich, dass sich schon in wenigen Jahren ein digitales künstlerisches Projekt mit wesentlich geringeren Kosten realisieren lässt. Das Vorgehen würde dann auch wieder besser in die existierenden Fördersysteme passen.
nmz: Wird die Repertoireoper dank dem Einsatz von AR und anderen Technologien nicht zur Filmmusik degradiert?
Pinna: NEIN. Falsche Frage auf so vielen verschiedenen Ebenen.
Das Gespräch führte Andreas Kolb