Hinter dem zweiten Schleusentor schlägt einem muffige Kühle entgegen. Die meterdicken Wände und tonnenschwerem Stahltore verursachen trotz sommerlicher Schwüle eine klamme Atmosphäre. Dennoch zwitschern und schnattern in diesem Hochbunker irgendwo Vögel. Wie ist das möglich? In einer vom Verteilerraum abzweigenden Schutzkammer entdeckt man beim Weitergehen die Videoprojektion eines Frühlingswalds. Natur und Mensch wirken darin paradiesisch vereint, wäre nur nicht so viel Plastik im Spiel. Dann erheben sich aus einem Kleiderhaufen drei Gestalten und führen das Publikum tiefer ins Gebäude hinein.
Remember! Performativer Appell von niclamue und ukrainischen Künstlerinnen in Köln
Thema der einstündigen Performance „Beauty Shall Appear“ sind die Kriege, die Menschen untereinander sowie gegen die Natur und damit letztlich immer gegen sich selbst führen. Schauplatz der dreizehn Stationen ist der Bunker K101 in der Körnerstraße Köln-Ehrenfeld, errichtet 1943 mitten im Zweiten Weltkrieg, mit vier Geschossen für 1500 Menschen. Nach dem Krieg diente das Gebäude als Notunterkunft für entlassene Kriegsgefangene und Lagerhalle. Während des Kalten Kriegs wurde es technisch modernisiert und erneut als Schutzraum vorgehalten. Ende der 1980er-Jahre wurde der Bunker zum Kulturraum, unter anderem als Probestudio genutzt von der Krautrock-Legende Zeltinger Band. Großflächig von Efeu bewachsen ist das stumme Relikt des alten Kriegs längst mit neuer Kultur und Natur belebt sowie ein eindringlicher Appell: Nie wieder Krieg!
Wer diesen Ort bespielt, lässt ihn zwangsläufig in tragender Rolle mitspielen. Das gilt auch für die Vokalperformerin niclamue und ihr temporäres „Powerhouse Of Music And Poetry“. Die Allrounderin – mit bürgerlichem Namen Nicola Müllers – verbindet verschiedene Genres zu etwas anderem als der Summe von Gesang, Oper, Theater, Szenographie, Licht, Bild, Tanz. Nun arbeitete sie mit zwei aus der Ukraine stammenden Künstlerinnen zusammen: der ebenso universellen Sängerin, Interpretin, Dirigentin, Pianistin und Performerin Viktoriia Vitrenko und der Dichterin, Fotografin und Videokünstlerin Marianna Glynska. Im düsteren Betonklotz erschienen die drei Frauen wie Erinnyen der Unterwelt und zugleich als bunte Paradiesvögel mit rosaroten Perücken, lindgrünen Sakkos, Leoparden-Shirts, Glitzerröckchen oder pinker Kunststoffhose. Derlei Spaßklamotten werden gegenwärtig beim chinesischen Billig-Onlineshop Temu millionenfach bestellt, ein paarmal getragen, dann verschlissen und weggeschmissen. Diese Verschwendung und Vermüllung galt es anzuprangern, doch nicht plakativ eindeutig. Musik und Lyrik blieben assoziativ offen für verschiedene Aspekte von Gewalt, Schmerz, Liebe, Schönheit.
Den ersten Song aus Giacinto Scelsis archaischen „Canti die Capricorno“ sang niclamue nach einer Notenrolle, welche vor ihr die anderen abrollten. Bei Scelsis „Sauh 1“ umsirrten und umgurrten sich beide Sängerinnen in einer berührenden Mischung aus Liturgie, Erotik und Animalik. Beide Vokalistinnen sind hörbar gut mit Scelsis Musik vertraut und waren/sind Stipendiatinnen der Fondazione Isabella Scelsi in Rom. Die für einen Moment mit dieser unmittelbar körperlichen und expressiven Musik ins kalte Gemäuer gezauberte Wärme erstarrte indes prompt wieder bei Charlotte Seithers „Glashaus“. Hier ließ Vitrenko nur Atmen, Stöhnen, Seufzen hören, während ihre Mundstellungen, Bewegungen und Gesten von der Dichterin als lebendes Spiegelbild pantomimisch verdoppelt wurden. Zwischen weiteren Stücken von Vivienne Olive, ILPO, Friedrich Jaecker, Fabien Andre und Wilbur Schwandt sprach Glynska ihre Gedichte auf Ukrainisch und Englisch sowie simultan von Vitrenko ins Deutsche gedolmetscht: „Auf mich schaut die Gleichgültigkeit mit gierigen Augen“, „Wie Insekten rennen sie auf engem Raum“. Dass alle dreizehn Stationen eine übergeordnete Folge von „Introitus“ „Altar“, „Transformation“ und „Katharsis“ bis zur finalen „Beauty“ bilden sollten, blieb ein ritualisierender Aufladungsversuch, der sich jedoch mehr aus dem Programmheft denn aus der Aufführung erschloss.
Bei Anna Arkushynas „Doyouhearme?“ warfen sich niclamue und Vitrenko wie beim Pingpong geloopte Vokalaktionen zu. Eine ukrainische Komponistin ist auch die 1962 geborene Victoria Poléva. Sie schrieb ihre folkloristisch-liedhafte „Wehklage“ für Vitrenko auf einen Text der Schriftstellerin Wiktorija Amelina, nachdem diese im Juni 2023 bei einem russischen Raketenbeschuss auf Kramatorsk/Donezk getötet wurde. Kurzschlussartig wurde so erhellt, was mit den im Weltkriegsbunker agierenden ukrainischen Künstlerinnen und Komponistinnen ohnehin die ganze Zeit bereits beschworen wurde: der Schrecken des Kriegs mit seinen zahllosen Opfern, damals in Köln und der ganzen Welt, heute in der Ukraine und anderen Ländern: getötet, beklagt, erinnert, zum Frieden mahnend. Am Ende verloren sich die drei Frauen zum sanft verklingenden Lamento aus Henry Purcells „Dido and Aeneas“ in der nachtschwarzen Dunkelheit des Bunkers als stiegen sie in den Hades hinab: „When I am laid in earth / May my wrongs create / No trouble in thy breast / Remember me / but – ah – forget my fate. Remember me, remember, remember…“.
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