Repertoireöffnung und -erweiterung – dafür hat die Bayerische Staatsoper neben den gängigen Werken der Opernfestspiele die Reihe „Werkstatt“ geschaffen. Dort können neue Formen zeitgenössischen Musiktheaters uraufgeführt werden – so jetzt ein Werk des Trios Manuel Schmitt (Idee und Regie), Felix Leuschner (Komposition) und Reto Finger (Libretto) in der Reithalle. Ob es das Werk ins Repertoire der Moderne schaffen kann, prüfte unser Kritiker Wolf-Dieter Peter.
Endlich einmal keine Psycho-Nabelschau eines neurotischen Individuums oder eine abermalige Beziehungskiste zwischen Mann und Frau, die sich längst hätten trennen sollen! Vielmehr ein Griff in unsere hochproblematische Straf-Realität, in die Welt der Gefängnisse mit „Hinrichtungskompetenz“. Manuel Schmitt stieß auf die Geschichte von Gerald E. Marshall. Zusammen mit zwei Mitverurteilten unternahm dieser 2003 einen Überfall auf einen Burger-Laden in Houston, bei dem ein Angestellter erschossen – doch nur Marshall in einem befremdlichen Verfahren wegen Mordes zum Tode verurteilt wurde. Er sitzt seit rund 15 Jahren im Todestrakt eines texanischen Gefängnisses und kennt seinen am Tag der Verhaftung geborenen Sohn nur durch die Glasscheibe des Besucherraumes. Schmitt hat über seine Besuche und Gespräche mit Marshall einen kurzen Dokumentarfilm gedreht. Zusammen mit Komponist Felix Leuschner und Librettist Reto Finger zielte er nicht auf ein kleines Dokumentarspiel, auf ein Werk gegen die Todesstrafe; das Trio extrapolierte die Fakten zu einer grundsätzlichen Analyse, zu einem pausenlosen 90minütigen Musiktheaterstück, dessen Titel „Requiem für einen Lebenden“ perfekt passt. Neben der Sprechrolle des „Häftlings“ gibt es die Singstimmen der Schwester und der Ex-Freundin, die beide auch Teile des Textes des jungen Sohnes übernehmen – übernehmen müssen, da Leuschners Komposition für Flöten, Bassklarinette, Violine, Cello, Synthesizer und E-Drum-Set zwar harmonisch zugängliche Klänge und Phrasen besitzt, aber doch auch in Geräusche, Dissonanzen und extreme Ausbrüche führt, die Leuschner selbst zusätzlich durch Live-Elektronik erweitert.
So reizvoll sich das liest, so aufführungsproblematisch ist es in der Realität. Muss Leuschner grundsätzlich bei jeder Aufführung selbst mitwirken? Kann ein anderer Elektroniker übernehmen, so das Werk aber doch verändern, irgendwie in Richtung einer „Klassik-Jam-Session“? Die sechs Musiker wirken außerdem als „Mitarbeiter im Burger-Laden“, als düster-gespenstisches Krähen-Ensemble um einen toten Hasen, als „Memento-mori-Chor“ mit Kerzen und geisterhaften Masken auf der Bühne mit – was das hinzu engagierte Frankfurter Ensemble Interface unter der Leitung von Armando Merino souverän meisterte – was aber der Nachspielbarkeit an anderen, weniger finanziell üppig ausgestatteten Experimentierbühnen entgegensteht.
Was jetzt zu hören war, beeindruckte als Alltagssound rund um einen Gefängnisbau, als Klanghöllensound aus den Radios verschiedener Zellen und dem Nebeneinander von „allem im Äther“, als leise Instrumentaltupfer für Einsamkeit und Isolationsatmosphäre, als tobendes Durcheinander der Gefühle. Auch die Singstimmen wurden nicht extrem geführt, dennoch brauchte der Zuhörer mehrfach die Übertitel, auch weil einiges aus den Totenmessen Johannes Ockeghems von 1461 und Pierre de la Rues von 1500 verbal skandiert oder instrumental verjazzt erklingt.
Reto Finger hat sich mit lateinischen Teilen aus Introitus, Kyrie, Tractus, Offertorium, Communio und Libera me als Text-Basis in ein Gemisch aus Alltagssprache, persönlichen Erinnerungen und grundsätzlichen Reflexionen und Imaginationen des Sterbensprozesses gewagt. Da steht dann mehrfaches „Verrecken“ neben „mit einem Lächeln scheiden“. Noch schwieriger wirken die Zitate aus dem Urteil: sie provozieren Kopfschütteln und dann Entsetzen über die inhumane Realität nordamerikanischer Strafverfahren – eben eine Welt von den schick-spannenden Gerichtsfilmen Hollywoods entfernt. Doch was da eigentlich unumgänglich verhandelt werden müsste – von der Giftspritzen-Problematik über strukturellen Rassismus bis hin zum soziologischen Zusammenhang von Prekariat und Kriminalität, lässt den mitdenkenden Zuhörer eher ein anklagend-analytisches Sprechstück in der Nähe von Schirachs „Terror“ wünschen. Auch wenn Schmitt und Finger gerade kein Stück über die Todesstrafen-Problematik machen wollten: angesichts des unsäglichen Urteils und den 15 Jahren Zuwarten enden sie dann doch mit einer Art „Szene des letzten Abendmahls“ sowie Fahrt und Gang zur Hinrichtung durch die Giftspritze, trotz des Titels… so als hätte die große, grundsätzliche Problematik dann doch die dramaturgische Leitlinie überwältigt. Aber da bleibt das Werk deutlich hinter Dallapiccolas „Il Prigioniero“ in den Frankfurter und Stuttgarter Aufführungen zurück.
Die Aufführung in einem irreal wirkenden Plastikplanen-Geviert schwankte auch zwischen Realismus mit Fitnessübungen, Radio, Basketballresten und Waschen einerseits und fiktionaler Überhöhung zum „Ecce homo“, dessen Gefängnisauto in den Himmel fliegt, der nur als Nummer existierte und von Pseudo-Tiefsinnssprüchen umgeben ist wie „The Universe is kind of a void“, „Some vanishing Things“ oder „The Balance of the void is disturbed“ (Bühne: Daniel Angermayr). Auf dem kleinen Podest seiner real winzigen Todeszelle agierte Ben Daniel Jöhnk als Häftling überzeugend, weitgehend zur Pseudo-Ruhe gekommen und nur ausbruchsartig emotional. Salome Kammer und Adriana Bastidas-Gamboa mischten Verwandtschaft, Ex-Liebschaft und die Fremdheit der Außenlebenden gekonnt in Sprechen und Gesangspartikeln. An ihnen lag es also nicht, dass das Werk dennoch einen zwiespältigen Eindruck hinterließ.