Schon Karl Marx hatte erkannt, dass die menschlichen Sinne nicht nur physiologisch und psychologisch bedingt sind, sondern vor allem geschichtlich und gesellschaftlich, geformt durch menschliches Handeln und Denken. Damit die Menschen die von ihnen geschaffenen sozioökonomischen Verhältnisse überhaupt erkennen können, um sie gegebenenfalls auch zu verändern, müssen daher ihre Sinne zunächst einmal für eben diese Prägungen geschärft werden. Ein Jahrhundert später zog daraus Herbert Marcuse den Schluss: „Die Revolution muß gleichzeitig eine Revolution der Wahrnehmung sein“.
Im Jahr der studentischen Revolte 1968 bekannte sich der marxistische Philosoph mit seinem großen Essay „Versuch über die Befreiung“ unumwunden zu den damaligen Umbruchsbestrebungen in Jugend, Kunst und Popularkultur: „Die Sinne müssen lernen, die Dinge nicht mehr im Medium jenes Gesetzes und jener Ordnung zu sehen, das sie geformt hat; der schlechte Funktionalismus, der unsere Sinnlichkeit organisiert hat, muß zerschlagen werden.“ Prädestiniert für das Aufbrechen etablierter Normen, Formen, Mittel, Techniken, Medien, Denk- und Wahrnehmungskategorien sind laut Marcuse Kunst, Literatur, Theater und Musik, wenn sie die „routinierten Weisen des Sehens, Hörens, Fühlens und Verstehens der Dinge“ überwinden.
Bestätigt sah Marcuse seine These in den historischen Avantgardebewegungen, als das Aufkommen von abstrakter Malerei, atonaler Musik, asemantischer Lautpoesie und körperbetontem Ausdruckstanz während und nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Sturz von Monarchien korrespondierte. Von ebenso künstlerischem wie humanem Aufbruchspathos leiten ließ sich damals auch der traditionsbewusste Arnold Schönberg am Ende seiner „Harmonielehre“ (1911): „Das Neue und Ungewohnte eines neuen Zusammenklangs schreibt der wirkliche Tondichter nur aus solchen Ursachen: er muss Neues, Unerhörtes ausdrücken, das ihn bewegt. Für die Nachkommen, die daran weiterarbeiten, stellt es sich bloß als neuer Klang, als technisches Mittel dar; aber es ist weit mehr als das: ein neuer Klang ist ein unwillkürlich gefundenes Symbol, das den neuen Menschen ankündigt, der sich da ausspricht.“
Potenzial zu einer Revolution der Wahrnehmung steckt auch in manchen zeitgenössischen Werken, vielleicht auch in den drei Uraufführungen, die am 2. November bei Wien Modern im Großen Musikvereinssaal zu erleben sind: Nicolaus A. Hubers „… der arabischen 4“, Friedrich Cerhas „Drei Situationen für Streichorchester“ und Hans-Joachim Hespos’ symphonische Szene „tapis fou“ für die eigenwillige Besetzung von „Sopran, Improvisierschrank und ausgeräumtes Orchester mit Gelegenheitsdirigent“. Das Wiener Festival widmet sich vom 28. Oktober bis 30. November dem Themenkomplex „Sicherheit – Freiheit – Risiko“. Wie hier gibt es auch andernorts Uraufführungen mit mehr oder weniger Risikobereitschaft, Sicherheitsbedürfnis und Freiheit.
Weitere Uraufführungen
1./2.11.: Toshio Hosokawa, Kei Daigo, Dai Fujikura, neue Werke, WDR Musik der Zeit, Kölner Philharmonie
2.11.: Sara Glojnaric, zwei neue Stücke für das Landesjugendensemble Neue Musik Baden-Württemberg, k42 Friedrichshafen
3.11.: Rudolf Kelterborn, Acht Einfälle für zwei Violinen, Kulturraum Thalwil
9.11.: Irini Amargianaki, Yonghee Kim, Alexander F. Müller, neue Werke für Ensemble New Babylon, Weserburg-Museum Bremen; Manfred Trojahn, 5. Streichquartett, NDR Hannover
10.11.: Christian Filips, Neo Hülcker, Barbara Köhler, Swantje Lichtenstein, Florian Neuner, Roman Pfeifer, neue Stücke für das „SprachKunstTrio sprechbohrer“, Lettrétage Mehringdamm Berlin
17.11.: Dieter Schnebel, Szenisches Oratorium „Luther 500“, Petrikirche Mühlheim an der Ruhr
27.11.: Georgia Koumara, Vladimir Guicheff-Bogacz, Farzia Fallah, Nicolas Berge, Marcello Rilla, neue Stücke für Kollektiv3:6Köln, Bogen 2 Köln