April 1724, Nikolaikirche zu Leipzig: die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach kommt zur Uraufführung. Doch das Werk des eben erst ins Amt des Thomaskantors berufenen Bach findet geteiltes Echo: als zu opernhaft empfanden viele das neue Werk, vor allem die Obrigkeit. Und in der Tat, in den gut zwei Stunden Musik entfaltet Bach eine dramatisch packende Geschichte von Leiden und Sterben Jesu. Stille Betrachtung oder innige Versenkung geht anders.
Im 20. Jahrhundert sind Bachs Passionen längst im Fokus von Choreografen, der berühmteste unter ihnen ist John Neumeier mit seiner vor über vierzig Jahren entwickelten Matthäus-Passion. Rolf Waldschmidt, Intendant des Theaters Osnabrück, hat nun den 1952 in Polen geborenen Regisseur Andrej Woron für eine szenische Einrichtung der Johannes-Passion gewinnen können.
„Herr unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist!“ – beim Eingangschor der Johannes-Passion tragen die Chorsängerinnen und -sänger Namensschilder in den Händen. Jede und jeder ein Individuum, jede und jeder ein Akteur, sie sind Zeugen jener wenigen Stunden zwischen Gefangennahme, Verurteilung und Kreuzestod: Zeig uns, dass du der wahre Gottessohn bist! Dieser Gottessohn streift ein Hemd und einen Anzug über – Jesus als einer von uns, ein Zeitgenosse aus dem Jahr 2014.
Ein Brückenschlag also zu Menschen im Hier und Jetzt, die sich die Ideale von Gerechtigkeit und Frieden auf ihre Fahne geschrieben haben? Und die im Kampf darum eben an dieser Aufgabe scheitern? So weit kann man Andrej Worons szenische Umsetzung vielleicht gar nicht interpretieren. Weil sich Woron im Wesentlichen darauf beschränkt, Bachs Musik quasi zu bebildern. Ihr eine aktuelle, in die Tiefe gehende zeitdiagnostische Dimension mitzugeben, dazu reichen die wenigen kritischen Inszenierungseinfälle in Worons Arbeit nicht. Sicher: Kapitalismuskritik kommt vor, wenn der Mammon in Koffern transportiert wird und zudem noch vom Himmel fällt. Geld war immer noch gut, selbst wenn man es durch den Verrat an einem Freund verdienen konnte. Oder die Kritik an der hektischen Betriebsamkeit einer Zivilisation, der die Wahrnehmung eines sich für eine bessere Welt abrackernden Menschen schlichtweg zum Opfer fällt. Da rennen die Bürger mit vollgestopften Einkaufstüten durch die Gegend – und sind blind für das Kruzifix mit dem Gemarterten.
Solche Szenen verschwinden hinter vielen anderen, die manchmal platt, manchmal banal wirken, aber den Abend dominieren. Zu „Von den Stricken meiner Sünden mich zu entbinden“ taucht Maria Magdalena als Hochschwangere auf. Und wenn die Arie „Ich folge dir gleichfalls mit eiligen Schritten“ ertönt, schultert einer der Jünger Rucksack, Isomatte und Gitarre, während Petrus vergeblich versucht, ein Zelt aufzubauen. Das ist ganz putzig, das ist ganz niedlich. Von solchen Szenen ist Worons Inszenierung voll – bis hin zur Vermarktung des „Events“ Kreuzestod: kaum ist Jesus tot, werden bereits Devotionalien verkauft wie sie kitschiger nicht hätten ausfallen können. Aber irgendwie fragt man sich zwischen durch immer und immer wieder: was meint Woron ernst – und was womöglich nicht? Ist der Kohlkopf, der da wie das Haupt einer Vogelscheuche auf einem kreuzförmigen Stecken sitzt, Ironie?
Die tiefen Empfindungen, die Bach in seine Musik legt und mit denen er die Worte des Evangeliums deutet, interessieren Woron nicht allzu sehr. Er bleibt an der Oberfläche der Geschichte, heftet sich eben an bunte Bilder und liefert jede Menge Aktionismus, setzt altbekannte Mittel wie den Rollstuhl für Pilatus ein, um irgendwie „aktuell“ zu wirken.
Beeindruckend an dieser szenischen Version ist vor allem der sogenannte „Bürgerchor“ – Menschen aus Osnabrück, die sich für dieses Projekt gemeldet, intensiv geprobt und überzeugend umgesetzt haben. Eine tolle Leistung, die Johannes-Passion komplett auswendig zu singen!
Unter den Solisten sticht Shadi Torbey in der Rolle des Petrus besonders hervor – ein stabiler, satter Bass mit raumgreifender und profund sicherer Stimme. Mark Hamman, seit etlichen Jahren eine sichere Bank am Theater Osnabrück, ist stimmlich indisponiert, darstellerisch als Evangelist aber voll auf der Höhe. Die Ruhe in Person: Jan Friedrich Eggers als Jesus.
Am Pult des Osnabrücker Symphonieorchesters steht dessen GMD Andreas Hotz. Der lässt schon gleich von Beginn des Eingangschores an keinen Zweifel daran, dass er Bach voll und ganz opernhaft versteht. Seine starken dynamischen Akzente unterstreichen die Spannung, die Andrej Woron auf der Bühne entwickelt.
Ganz am Schluss aber überlegt man sich, ob diese Johannes-Passion nicht doch jene kalte und unwirtliche Kirche braucht, in denen sich Anno 1724 das Leipziger Uraufführungs-Publikum mit dieser „opernhaften“ Partitur in einem Stunden dauernden Gottesdienst konfrontiert sah – und sie hautnah im besten Sinne „erleiden“ durfte. Das Theater erscheint in diesem Fall etwas zu gemütlich...